Europäische Energiepolitik

Scientists and Leaders

d'Lëtzebuerger Land vom 23.06.2011

„Die Häresien von gestern sind die Orthodoxien von heute, und das ist keine Anomalie der Geschichte, sondern ihr normaler Ablauf.“ Dieser Satz des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo aus seinem Aufsatz Das individuelle Gewissen pflegen passt zu schön zum sich abzeichnenden Rollentausch von Kernenergie und erneuerbaren Energien, als dass er hier unzitiert bleiben könnte. Das individuelle Gewissen spielt bei diesem Paradigmenwechsel ja auch nicht die kleinste Rolle. Das scheint jedenfalls jede Meinungsumfrage zur Kernenergie in Deutschland zu bestätigen. Und auch José Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommis-sion, betonte am 16. Juni zum wiederholten Male, dass es eine moralische Pflicht sei, auf erneuerbare Energien umzusteigen, nicht ohne hinzuzufügen, dass der wirtschaftliche Imperativ ebenso schwer wiege wie der moralische.

Barroso sprach in Brüssel auf einem Treffen, auf dem der Spezielle Bericht des Weltklimarates über erneuerbare Energienquellen vorgestellt wurde. Am Ende seiner Rede wurde er poetisch und sang vier Zeilen aus dem Lied The Village Green Preservation Society von The Kinks von 1968. Wenn ein so ausgebuffter Politiker wie Barroso vor Freude anfängt zu singen, dann weiß der Zeitgenosse, dass etwas Besonderes in der Luft liegen muss.

Der Spezialbericht zu erneuerbaren Energiequellen zeigt auf, wie die Welt bis 2050 einen großen Teil ihres Energiebedarfs durch erneuerbare Energien erzeugen könnte. Connie Hedegaard, EU-Klimakommissarin, nutzte die gleiche Veranstaltung um für 2030 einen möglichst verpflichtenden Anteil dieser Energien von 30 Prozent an der europaweiten Energieerzeugung zu fordern. Das sei allein deshalb wichtig, um Investoren die notwendige Sicherheit bieten zu können. Barroso rief sich und seine Politikerkollegen dazu auf, wie Wissenschaftler zu denken und wie richtige Führer zu handeln und bezeichnete Investitionen in Forschung, Infrastruktur und Gesetzesrahmen für erneuerbare Energien als das Kerngeschäft der EU.

Abgesehen davon, dass manche außer Wissenschaftlern und richtigen Führern gerne auch den einen oder anderen Bürger mit im Boot hätten, gibt die Wirklichkeit der EU nicht nur Anlass zu ausuferndem Enthusiasmus. Zwar sieht es so aus, als würde die EU ihr Ziel erreichen, bis 2020 20 Prozent ihres Energiebedarfs mit erneuerbaren Energien herzustellen. Aber besonders im Bereich Energieeffizienz drohen die Mitgliedstaaten ihre Ziele weit zu verfehlen.

Nach der Ratssitzung der Energieminister am 10. Juli in Luxemburg berichtete Energiekommissar Oettinger von einer Zwei-Stufen-Strategie, die nur aus der Verzweiflung geboren sein kann: Wenn es die Mitgliedstaaten bis 2013 nicht schaffen, endlich deutliche Fortschritte in der Energieeffizienz zu erzielen, dann würden 2014 verbindliche Vorgaben für jedes Land festgelegt. Wie er das mit den Mitgliedstaaten durchsetzen will, ließ er offen. Durchgesetzt hat er aber nach eigenen Angaben die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, jährlich drei statt 1,5 Prozent aller öffentlichen Gebäude der EU energietechnisch zu sanieren.

Offen blieb auch, wie tief die Differenzen bei den Stresstests der europäischen Atomkraftwerke gehen. Die einen wollen gründlicher untersuchen und schneller fertig werden, die anderen nicht so genau hinschauen und sich mehr Zeit lassen. Oder so ähnlich. Auf jeden Fall aber sei man sich im Grundsatz einig, behauptete Tamàs Fillegi, ungarischer Minister für Nationale Entwicklung, auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit EU-Kommissar Günther Oettinger.

Beide betonten, dass sich der Rat im Herbst eingehend mit einem Gutachten über die Auswirkungen des deutschen Atomausstiegs auf den europäischen Energiemarkt befassen wird. Es ist bekannt, dass dieser unabgesprochene Ausstieg den meisten europäischen Partnern sauer aufgestoßen ist. Deutschland ist der größte Energiemarkt Europas. Deshalb und auch weil das Land in der Mitte Europas liegt, ist sein Einfluss auf die Nachbarn groß. Oettinger forderte, dass die stufenweise Abschaltung der noch laufenden deutschen Atomkraftwerke unbedingt mit den Nachbarländern abgestimmt werden müsse. Die schon erfolgte Abschaltung von sieben Altmeilern bedeute etwa zehn Prozent der Stromerzeugung Deutschlands und knapp drei Prozent derjenigen Europas. Der schnelle deutsche Atomausstieg erhöhe den Druck für ganz Europa, noch schnell in die Infrastruktur der Strom- und Gasnetze zu investieren. Oettinger kündigte an, dass sich der Rat und das Europäische Parlament wahrscheinlich bis zum September über die Verordnung zu einem integrierten und transparenten europäischen Energiemarkt (REMIT) einigen würden, die Marktmanipulationen erschweren und überall gleich bestrafen soll.

Mittlerweile kursieren auch die ersten Zahlen, was der deutsche Atomausstieg alle europäische Verbraucher kosten könnte. Über die Leipziger Strombörse werden europaweit die Strompreise mitbestimmt, die deutsche Energiepolitik entscheidet natürlich über die Preisentwicklung mit. Mitunter ist von bis zu vier Milliarden Euro zusätzlich jährlich die Rede, aber seriöse Voraussagen lassen sich dazu sicher noch nicht erstellen. Eines aber sollte allen klar sein, die heute über den endgültigen Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie und seine Pilotwirkung für ganz Europa jubeln: Die Häresien von heute sind die Orthodoxien von morgen. So gesehen, müssen wir etwa in 50 Jahren mit einer Renaissance der Kernenergie rechnen.

Christoph Nick
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