Luxemburgensia

Elternlos durch die Nacht

d'Lëtzebuerger Land vom 28.06.2019

Doppel-LPs mit Hörspielen mögen bei älteren Leserinnen und Lesern Kindheitserinnerungen wachrufen. Die Openscreen-Produktion Wou ginn Elteren nuets hin?, nach einer Textvorlage von Claudine Muno, ist allerdings kein Nostalgieprojekt, das seine reife Zuhörerschaft in die flauschigen Wohnzimmer der 70er Jahre zurückversetzen will. Die schlichte Plattenhülle deutet eine gewisse Zeitlosigkeit des Stücks an und weist darauf hin, dass es „fir Nolauschterer ab 13 Joër“ geeignet sei. Inszeniert wird eine Urszene des Kindseins: Man wacht mitten in der Nacht auf, wälzt sich schlaflos hin und her, schleicht sich aus dem Zimmer und sieht, wie die Eltern – gerade das Haus verlassen!

Für Munos zehnjährige Protagonistin ist damit erst recht nicht mehr ans Schlafen zu denken. Sie macht sich auf die Suche nach Mutter und Vater sowie nach der Antwort auf die Frage, warum Eltern ihre Kinder überhaupt nachts allein lassen. Wie auch in ihrem Romanen versteht es Claudine Muno in ihrem Hörspiel, die Welt der Erwachsenen aus der Perspektive des Kindes zu schildern und die Grenzen zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur verschwimmen zu lassen. Auf die Heldin wirkt alles bedrohlich, von den Schatten an der Wand bis zu den eigenen Füßen, die nachschauen wollen, ob da nicht irgendwo Einbrecher am Werk sind.

Hinter den törichten Ängsten stecken existenzielle Sorgen. Die Eltern garantieren, dass die Welt funktioniert. Wenn sie verschwinden, verschwindet man dann nicht auch selbst? Einsamkeit und Tod lugen zwischen den Zeilen des feinfühligen inneren Monologs hervor, den Betsy Dentzer mit kindischer, aber nie nerviger Stimme vorträgt. Sie wechselt an manchen Stellen kurz das Mikro, um den Zuhörerinnen und Zuhörern einzelne Sätze um die Ohren zu schleudern. Ob Regisseur Da-
niel Tanson dies für mehr als einen Effekt nutzt, ist nicht immer klar.

Auch die weiteren Figuren werden von Dentzer als Erzählerin gesprochen. Dazu zählt in erster Linie Georges, ein vereinsamter Rentner, den die Zehnjährige draußen auf der Straße trifft. Der ehemalige Architekt begleitet sie durch die Nacht und stellt als alter Mann, der seine Familie verloren hat, den Gegenpart zum jungen Mädchen dar, das befürchtet, die seine sei ihm abhandengekommen. Mit Georges trinkt die Protagonistin Tee in der heimischen Küche, wo er ihr von den Drei Schwestern erzählt, Gespenster, die frei nach Dickens in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihres Gegenübers blicken.

Der anschließende Besuch bei den Drei Schwestern ist die Szene, in der das Hörspiel am klarsten fantastische Zügen annimmt und in der man zum ersten Mal an der Wahrhaftigkeit der Ereignisse zu zweifeln beginnt. Es ist auch einer der seltenen Momente, in dem die Musik in den Vordergrund rückt, denn die Gespenster äußern sich nur in dieser Form. Nataša Grujovic (Akkordeon) und Michel Feinen (Perkussion) begleiten die Gedanken und Beobachtungen der Erzählerin ansonsten mal mit einer leisen Geräuschkulisse, mal mit wabernden Klangsphären, werden hier jedoch zu gleichwertigen Spielpartnern.

Ähnliches gilt für die dritte und letzte Station, an die die Protagonistin auf ihrer Reise durch die Nacht gelangt: Georges möchte die Zehnjährige ausgerechnet in eine Kneipe mitnehmen, deren lärmige Atmosphäre von Grujovic und Feinen musikalisch bestens umgesetzt wird. Hier muss Dentzer denn auch durchweg schreien, um die Erzählung weiterzuführen. Immerhin offenbart die Wirtin dem Mädchen, dass Eltern nachts an Orte wie diesen gehen, um sich frei zu fühlen. Dass auch die Erwachsenen nicht tun und lassen können, was sie wollen, ist für das Kind sehr wahrscheinlich eine größere Erkenntnis als für das Publikum.

Nach dem ausgefallenen Mittelteil findet Wou ginn Elteren nuets hin? hier wieder in geordnete Bahnen zurück und lässt das Spiel mit Perspektiven und Wirklichkeitsebenen bereitwillig zurück. Die nächtliche Parallelwelt schwindet dahin, obwohl der Text zuvor darauf pochte, dass auch Vorstellungen eine Wirklichkeit besitzen, die die Persönlichkeit der Menschen formt. Wenn es sich der Schluss auch einfach macht, ist Claudine Munos Hörspiel doch insgesamt gelungen, wozu nicht zuletzt die stimmungsvolle Umsetzung beiträgt. (Die deutschsprachige Version, die als Download beiliegt, ist der auf Vinyl gepressten luxemburgischen übrigens unterlegen.) Der Katalognummer „001“, die auf dem Cover prangt, dürfen gerne weitere folgen.

Wou ginn Elteren nuets hin? E Lauschtersteck. Text: Claudine Muno. Erzählerin: Betsy Dentzer; Musik: Nataša Grujovic & Michel Feinen; Regie: Daniel Tanson; 2LP, Openscreen 2018, 25 Euro

Jeff Thoss
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