LEITARTIKEL

Unter Druck

d'Lëtzebuerger Land du 23.09.2022

Für 54 373 Schüler und Schülerinnen der öffentlichen Grundschule hieß es vergangene Woche: Rentrée. Jedes einzelne dieser Kinder ist anders, verfügt über unterschiedliche Fähigkeiten und Bedürfnisse, stammt aus bildungsnahen oder -fernen Familien, spricht oft eine andere Muttersprache als Lëtzebuergesch. Möglicherweise sind Lernschwierigkeiten oder eine Behinderung vorhanden. Vor einer Gruppe aus diesen Schülern steht dann in der Regel ein Mensch, der in das Allerlei Kohäsion und Ruhe bringen, den Kindern zusätzlich etwas beibringen soll. Nicht nur die Anforderungen an die Schüler – die am Ende der Schullaufbahn bitte als einigermaßen fähige, steuerzahlende Mitbürger/innen in das System entlassen werden –, sondern auch an das Lehrpersonal sind in den letzten Jahren enorm gestiegen.

Vor ein paar Jahrzehnten war man in Luxemburg noch stolz, einen Schoulmeeschter oder eine Joffer in der Familie zu haben. Es war eine gesellschaftliche Position, die Ansehen und Respekt genoss. Die Gehaltszettel und Schulferien wurden als triftige Argumente angeführt, um den Beruf zu ergreifen. Auf der Webseite von RTL waren und sind ebendiese Grund zum Bashing der „unkündbaren Faulsäcke“. Die Aufgabe selbst, nämlich die Wissensvermittlung vor müden oder auch hyperaktiven kleinen Kindern, die bleibt meist unkommentiert. Wer mit Lehrpersonal spricht, der hört, dass diese eigentliche Arbeit, das Lernen mit den Kindern, immer mehr abnimmt. Ersetzt wird sie von endloser Bürokratie, Krisen-Kommunikation mit grenzüberschreitenden Eltern und den Herausforderungen der Inklusion. Das Lehrpersonal leidet an jener Herausforderung, die im digitalen Zeitalter fast alle Berufszweige heimsucht: die Zersplitterung der Zeit durch das Zuviel an Bürokratisierung. Das Ganze gepaart mit zu wenig Wo-manpower.

Der Mangel an Lehrpersonal in öffentlichen Grundschulen, der in Luxemburg durch das Quereinsteiger-Gesetz von Bildungsminister Claude Meisch (DP) etwas abgefedert, jedoch nicht gelöst wurde – die Regelung hat eine Reihe andere Probleme mit sich gebracht, etwa großen Kompetenzmängel und Überforderung an pädagogischen Schlüsselstellen wie dem cours d’accueil – erklärt sich auch damit, dass der Beruf sich stark verändert und an Attraktivität eingebüßt hat. Zu alledem gesellt sich nun auch noch ein Imageproblem. Manche Ersatzlehrkräfte, die diese Arbeit in Erwägung zögen, überlegten es sich nach einer Woche in einer Schule nochmal anders, wenn sie mitbekämen, wie der Arbeitsalltag wirklich aussieht, erzählt eine Lehrerin. Bei Quereinsteigern sei das zum Teil ähnlich. Kürzlich hat der Bildungsminister die Studienplätze für das Grundschullehramt an der Universität Luxemburg von 100 auf 180 aufgestockt. Ob das auf lange Sicht reichen wird, ist äußerst fraglich. Immerhin sollte die Quereinsteiger-Regelung nur eine Notlösung sein, die nächstes Jahr ausläuft. Die Zahlen sprechen Bände: Zur Rentrée 2022 wurden mehr als die Hälfte der 289 offenen Grundschulstellen mit Quereinsteigern besetzt.

Auch in Deutschland wollen „Top Abiturienten keine Lehrer werden“, liest man im Handelsblatt. In Berlin hat nur noch jede zehnte (!) Lehrkraft, die an einer Grundschule neueingestellt wird, eine Lehramtsausbildung. Die Zeit ließ Lehrpersonal, das den Berufsausstieg wählte, über die Realität an deutschen Schulen berichten: ein ernüchterndes Bild. Sie bestehe zu „75 Prozent“ aus Krisenintervention, sagte eine Lehrkraft. Vor zwei Wochen bemühte Claude Meisch mal wieder die Wichtigkeit der Wertschätzung vom Lehrpersonal, es gehe um eine „gesamtgesellschaftliche Botschaft“. Es bietet sich an, vermehrt von Worten auf Taten überzugehen.

Sarah Pepin
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