DP-Premierminister Xavier Bettel brachte vorigen Monat einen Entwurf zur Änderung des Wahlrechts ein. Die fünfjährige Bewährungsfrist soll abgeschafft werden, an deren Ende sich Eingewanderte in die Listen zu den Gemeindewahlen eintragen dürfen. Das ist eine Entschuldigung für das Referendum von 2015. Damals stimmten drei Viertel der Wahlberechtigten gegen die Teilnahme von Eingewanderten an Kammerwahlen.
DP-Fraktionssprecher Henri Grethen hatte bei der Ratifizierung des Maastrichter Vertrags gewarnt, es sei für die Luxemburger Identität „dangereux de s’avancer sur la voie d’un droit de vote pour les étrangers“ (Forum, März 1992). Im Parlament hatte er am 1. Juli 1992 für „Lëtzebuerg beim Artikel 8 B eng sougenannt Opting-out-Klausel“ verlangt. Artikel 8 B gewährt „Unionsbürger[n]“ das „aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen“.
Die damalige CSV/LSAP-Regierung dachte ähnlich. Sie schlug 1994 Übergangsbestimmungen heraus. Damit sie sich so lange wie möglich am kommunalen Wahlrecht für so wenige wie möglich vorbeidrücken konnte.
Ein Teil der Wähler befürchtete, dass alle Eingewanderten wählen gingen und in Dörfern und Städten die Macht über Einbahnstraßen und Friedhöfe an sich rissen. Ein Teil der Gemeindepolitiker befürchtete, ihre Mandate an neue Konkurrenten zu verlieren.
Das Gegenteil traf ein. Bis heute interessiert sich nicht einmal ein Viertel der Eingewanderten für die Wahlen in ihrer Gemeinde. Das Misstrauen der Parteien schlug in Gekränktheit um: Zuerst fühlten sie sich von der Europäischen Union zu Xenophilie gezwungen. Dann pfiffen die undankbaren Eingewanderten auch noch auf die Gemeindewahlen.
Unbelehrbar behaupten Politiker, Presse und Vereine bis heute: Wenn man nur genug bunte Flugblätter nach den Eingewanderten würfe, gingen so viele wählen wie Luxemburger. Wahrscheinlicher ist: Ohne Wahlzwang gingen so wenige Luxemburger wie Eingewanderte wählen. Weil sich ihre ganze Existenz um Wahlen dreht, neigen Parlament, Regierung und Parteien dazu, sie überzubewerten.
Seit 2003 werden alle fünf Jahre die Aufenthaltsbedingungen und Einschreibefristen zur Teilnahme an Gemeindewahlen gelockert. Damit die 299 400 Eingewanderten ihre sozialen und ökonomischen Anliegen nicht gegen die 335 300 Eingeborenen richten, sollen sie politisch eingebunden werden. Doch bleiben sie als Staatsbürger zweiter Klasse gesondert.
Vielleicht ist der wirkliche Einsatz die Scheidung der Eingewanderten von den 204 900 Grenzpendlern. Grenzpendler gelten nicht als ganze oder halbe Staatsbürger, sondern als Reserveheer an Arbeitskräften. Der Preis ihrer Arbeitskraft erscheint niedriger als der Wert. Denn ein Teil ihrer Reproduktionskosten, von der Ausbildung bis zum Altersheim, wird aus den heimischen Konten exportiert.
Werden nach 30-jährigem Misstrauen gegen die „ausländischen Mitbürger“ die letzten Ausnahmen zum Maastrichter Vertrag nun abgeschafft? Artikel 8 B verlangt, dass für EU-Bürger „dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats“. Ein Luxemburger, der in eine andere Gemeinde umzieht, wird dort automatisch in die Wählerlisten eingetragen und unterliegt der Wahlpflicht. Dies gilt nicht für andere Nationalitäten. Gleiche Bedingungen hieße: automatischer Eintrag und Wahlpflicht für alle.
Die Wahlpflicht war 1919 aus der Befürchtung heraus eingeführt worden, die Arbeiterbewegung könnte ihre Wählerinnen und Wähler leichter für einen Wahlgang mobilisieren als die Konservativen und Liberalen. Meinungsumfragen für die vom Parlament bestellte Analyse der Wahlen von 2004 legen den Verdacht nahe, dass ausländische Staatsangehörige nach Klassen- und Schichtenlagen wählen würden wie Luxemburger. Deshalb grenzt das Wahlgesetz weiterhin Eingeborene, Eingewanderte und Grenzpendler voneinander ab.