ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Im Weiß der Unschuld

d'Lëtzebuerger Land du 22.10.2021

Das Luxemburger Modell sei eine Erfolgsgeschichte. Das erklärte Premierminister Xavier Bettel vergangene Woche dem Parlament. Es sei die Geschichte eines Landes, „wou mir matenee schwätzen, aplaz géinteneen ze schaffen“. Trotzdem musste er in seiner Erklärung zur Lage der Nation drei Dutzend Mal das Zusammenkommen, zusammen Angehen, zusammen Gelingen, zusammen Gehen, Zusammenhalten, Zusammenleben und Zusammenarbeiten beschwören. Er versprach: „Mir wëllen an Zukunft nach méi staark op d’Biergerbedeelegung setzen“.

Denn über 8 000 Leute haben auf der Internetseite des Parlaments eine Petition unterzeichnet, damit eine Volksbefragung über die bevorstehende Verfassungsreform stattfindet. Eine Petition gegen eine Impfpflicht erreichte inzwischen 11 000 Unterschriften. Im Weiß der Unschuld gehüllt waren am Freitag 3 000 Menschen gegen Covid-Impfungen und Impfpass durch die Hauptstadt marschiert.

Die Proteste verschmelzen: Bei einer vom Parlament organisierten Podiumsdebatte über die Verfassungsrevision konzentrierten sich vergangene Woche die Publikumsfragen auf das Impfen. Bei der Covid-Kundgebung forderten Demonstrantinnen mit Schrifttafeln ein Verfassungsreferendum. Ein ähnlicher Protest hatte sich 2015 gegen das Sparpaket, das Ausländerwahlrecht und die liberale Reformkoalition aufgebaut. Er gipfelte im Fiasko des Referendums. Die Regierung machte eine Kehrtwende.

Die derzeit Protestierenden leiden keine Not. Sie fühlen sich getäuscht: Die Parteien hatten in ihren Wahlprogrammen ein Verfassungsreferendum versprochen. Nun drücken sie sich mit Spitzfindigkeiten daran vorbei. Die Regierung hatte versprochen, niemand zur Impfung gegen die Covid-Seuche zu zwingen. Nun verstärkt sie mit dem neuen Covid-Gesetz den Druck auf die Ungeimpften. Das Gesetz erteilt den Unternehmern einen Blankoscheck. Es lockt die Gewerkschaften in eine Falle.

Der Protest ist gegen die ökoliberale Koalition gerichtet. Er überlappt mit ihrer Wählerschaft. Er nimmt die Koalition beim Wort. Es ist das grüne Misstrauen gegen die Schulmedizin und das „rechnende Denken“, der Ruf nach direkter Demokratie durch die unschuldige Zivilgesellschaft. Es ist die liberale Ideologie von Entsolidarisierung, Egoismus und Staatsfeindlichkeit. Stolz auf sein Recht zu sein, sich nicht für andere verantwortlich zu fühlen. Die CSV taktiert. Die ADR fühlt sich in ihrem Element.

Die Regierung rechnet: Wenn 80 Prozent der Bevölkerung geimpft sind, klingt der Impfprotest ab. Wenn keine 25 000 Leute unterschreiben, verstummt der Ruf nach einem Referendum. Mehr fürchtet sie den nächsten Protest: Gegen das Ende des „fossilen Klassenkompromisses“. Gegen die Entscheidung, wer die Kosten des geplanten Umbaus zum grünen Kapitalismus trägt. Der Industriellenverband Fedil verlangte am 24. September drohend die Verstaatlichung seiner Unkosten.

Der Aufstand der Gilets jaunes in Frankreich zeigte, wozu eine „taxe carbone“ führen kann. Xavier Bettel rief auf, „d’Bierger virun den enorme finanziellen Auswierkunge vun der Klimakris ze schützen“. Der nächste Protest wäre nicht bloß ein ideologischer von Bürgern, die keine Not leiden. Er wäre auch ein ökonomischer von Arbeitern, kleinen Angestellten, Rentnern, denen es schlecht geht.

Die Regierung fördert den Umbau der Produktionsverfahren unter Wahrung der Besitzverhältnisse. Zur Legitimierung der technokratischen Umweltpolitik von oben kündigte sie einen „Klima-Biergerrot“ an. So lautet die Übersetzung von „Convention citoyenne pour le climat“. Das war 2019 Präsident Emmanuel Macrons Antwort auf die Gilets jaunes.

Doch einen Tag nach Xavier Bettel war Finanzminister Pierre Gramegna zuversichtlich: Dem globalen Kapital scheint die Stabilität seines hiesigen Backoffice etwas Kleingeld wert. Vielleicht sponsort es sogar einen neuen, dekarbonisierten Klassenkompromiss.

Romain Hilgert
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