leitartikel

Choice overload

d'Lëtzebuerger Land vom 17.05.2024

IIm Bildungsministerium ist es still geworden, seitdem DP-Minister Claude Meisch zusätzlich das Ressort Wohnungsbau übernommen hat. Läuft alles nach zehn Jahren weiter so, wie gewohnt. Bis auf die Erneuerungen im Sekundarschulbereich. „Um sich den neuen gesellschaftlichen Realitäten anzupassen“ wurden im Général zwei neue Bildungsangebote geschaffen: Wer Tätowierer werden will, kann nun einen DAP am Lycée du Centre machen; Schüler, die sich in Naturwissenschaften und Technologie im Gesundheitsbereich bilden wollen, steht eine GSH-Sektion am LTPS offen.

Für den Classique wurde Mitte April ein Gesetzentwurf deponiert, der den legalen Rahmen für drei neue Sektionen, die bereits als pädagogische Innovationsprojekte existieren, schafft: Sektion N wendet sich dem Unternehmertum, den Finanzen und dem Marketing zu; Sektion P behandelt die kognitiven und Geisteswissenschaften (Psychologie, Pädagogik) und R soll Kenntnisse in internationalen Beziehungen, Politik und Nachhaltigkeit vermitteln. N wird ausschließlich an der Ecole de commerce et de gestion (ECG) angeboten, P am LGL, am Lycée Belval und dem LNW in Wiltz; R gibt es bisher nur am Kolléisch. Ziel ist es, Schüler hervorzubringen, die allesamt den „Herausforderungen der Gegenwart“ gewachsen sind – und guten Gewissens in den sich stark verändernden Arbeitsmarkt entlassen werden können. Diese drei Sektionen gesellen sich den Sektionen A, B, C, D , E, F, G, H (Binationale Deutsch-luxemburgische Sektion) und I (Informatik und Kommunikation) hinzu.

„Wir müssen darauf achten, was wir heute den jungen Menschen mitgeben, damit sie komplementär zum Computer ihre Aufgabe im Produktionsprozess oder im Wirtschaftsleben finden können. Daneben sollten wir dafür sorgen, dass sie sich auch als Mensch, als Bürger mit kritischem Denken wiederfinden“, erklärte Claude Meisch dem Tageblatt vor vier Jahren. Die Reihenfolge der aufgezählten Prioritäten ist interessant. Die Wirtschaft schafft es vor das kritische Denken, immerhin sind die Schüler/innen von heute die Talente und Steuerzahler von morgen. Die Handelskammer applaudiert dem liberalen Minister für seinen neuen Gesetzentwurf. In ihrem Gutachten schreibt sie: „Cette connexion accrue aux réalités du marché du travail (…) traduit un enseignement voulu plus proche des réalités des entreprises et de l’économie qui pourra favoriser l’acquisition de compétences transversales et ouvrir les jeunes à de nouvelles opportunités d’emploi.“

Claude Meisch, der sich Bildungsgerechtigkeit unter dem Motto „unterschiedliche Schulen für unterschiedliche Schüler“ auf die Fahnen geschrieben hat, kurbelt damit die Konkurrenz zwischen den öffentlichen Schulen an. Denn nicht jede Schule kann diese Sektionen anbieten; waren es vor zwei Dekaden nur literarische oder musikalische Sektionen, die in kleineren Schulen Schüler/innen dazu veranlassten, das Gymnasium zu wechseln, offenbaren sich nun größere Hürden. Denn wenn versichert wird, dass diese Vielzahl an zwölf Sektionen geografisch für alle zugänglich sein soll, ist das in der Praxis schlicht unmöglich. Sektion N zum Beispiel, wo Schüler einen Tag in der Woche wie in einer Mini-Firma arbeiten, wird es so eigentlich nur am ECG geben können.

Die Schullandschaft diversifiziert sich weiter und ist überlastet. Gut informierte Schüler und Eltern treffen die Entscheidung, was und wo gelernt werden soll. Denn es gibt nun einen regelrechten „Markt“ an Sektionen. Das kann eine Überforderung für 15-Jährige, die auf der Quatrième eine Entscheidung treffen müssen, darstellen. Wahrscheinlich ist es toll für all jene, die genau wissen, was sie später machen wollen. Für alle anderen dürfte der choice overload die Wahl nicht gerade einfacher gestalten. Ob es sinnvoll ist, bereits in den letzten drei Jahren der Sekundarschule so spezialisiert, wenn auch interdisziplinär zu lernen, sei ebenso dahingestellt.

Im CSV-DP Koalitionsprogramm hieß es, man wolle die Sektionen langfristig abschaffen. Sie würden dann mit Grund- und Leistungskursen auf modularer Basis ersetzt – ob und wann ein solcher Pilotunterricht anläuft, bleibt ungewiss. Eine Reihe organisatorische Fragen stellen sich, etwa nach der Gewichtung der Fächer, nach dem Stundenplan. Gewissermaßen ist es eine logische Konsequenz der Fülle an Sektionen, sie ganz aufzulösen. Ob Claude Meisch für eine solche Reform mit der Gewerkschaft der Sekundarschullehrer Féduse auf einen grünen Zweig kommt, ist fraglich.

Sarah Pepin
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