Was gibt es Mörderisches als das Familienleben? Man muss sich nur mal wieder in die griechische Sagenwelt begeben, da verliert man alle Illusionen. Gott Vater hat seinen einzigen Sohn geopfert, oder der sich ihm, für wen, für was, für uns angeblich, um uns zu erlösen, nur wovon? Eben, das ist Familie, alle haben Schuld oder sind Schuld, aber woran? Das ist es eben, es ist so schwer herauszufinden, wenn man einmal drinnen ist in diesem Knäuel. Eine Eingeborene.
Im Familienkreis kann man so lang herumkreisen, bis man durchdreht. Er kann so verdammt eng sein, dass man erstickt oder zu halluzinieren anfängt. Darüber kann man sein ganzes Verwachsenenleben dann nachgrübeln, auch mit professioneller Hilfe, auf einer Couch, oder man kann das beliebte Gesellschaftsspiel Familienaufstellung spielen. Mit fremden Menschen, die man gegen Bezahlung herumschieben darf, und „Mutter“ oder „Bruder“ nennt. Manche sagen, das helfe.
Was ist lebensbedrohlicher als einen Gemahl zu besitzen oder einen Elternteil oder einen Sprössling? Die Statistik ist deutlich, die meisten Morde werden im inneren Kreis begangen, die Feindin im Bett ist bedrohlicher als die unterm Bett, gute Onkel sind böse Onkel. Man könnte einwenden, dass in unserem Kulturkreis die Familie ja kaum noch existiere, nur noch als Experiment, als kreatives Flickwerk, als Work in Progress. Etwas, das man jederzeit stornieren kann, es passte nicht, Sorry.
Die grabsteinschweren Worte sind deaktiviert, Ewigkeit, Tod, man muss die Liebe nicht mehr mit dem Tod bezahlen, oder mit lebenslänglich. Man muss die Anwältin bezahlen oder den Mediator. Trotzdem, um um die Ecke gebracht zu werden, reicht schon eine Mutter mit einer Axt oder ein Inzestopa. Man braucht nicht unbedingt einen Stamm mit ehrenwerten Ehrenmördern.
Wenn alles nur blutrünstig wäre, gäbe es natürlich keine Familie mehr, die Menschen wären längst ausgestorben wie griechische Götter. Das Tolle ist ja auch, so eine Familie kann man selber machen, es ist nicht übermäßig kompliziert. Auf einmal ist eine da, wer hätte das gedacht?, es gab nur zwei Singles und eine Nacht.
Die Familie, die es trotz aller Freistrampelversuche immer noch gibt, zumindest als Obsession oder Nostalgie, hat nämlich – Blut ist kein Wasser, es kann gern auch eine unblutige, über lange Jahre zusammengefügte Familie sein – mächtige, unnachahmliche Reparaturmechanismen im Angebot. Wir sind wieder gut miteinander! Das wird nicht unbedingt feierlich verkündet. Ein ungehöriger Angehöriger sitzt plötzlich am Küchentisch, ja, da sitzt er halt, willst du einen Kaffee? Eine schlurft schweigsam und eine schrillt hysterisch und einer sagt gar nichts mehr, und der hockt nur vor der Glotze, irgendwann wird gegähnt, ja, die Kindheit. Und einer wird handgreiflich, und einer soll das doch mal begreifen, er ist doch der Bruder, der Enkel, es kann doch mal passieren, der Stress, das Leben, und er hatte auch Eltern. Oder er hatte keine. Damals, im Hundertjährigen Krieg, die hatten es auch nicht so einfach.
Es kann ja mal vorkommen, man kennt sich doch, auch wenn man nie miteinander redet, man weiß, wie es riecht, wenn wer von der Toilette kommt, man muss sich nicht gerade halten und kann mit vollem Mund sprechen. Egal was.
Das ist nämlich Familie, die meisten überleben sie, das sagt die Statistik auch. Eine gewisse Entspanntheit, deshalb haben die Menschen eine Familie, in der sie sich nicht immer zusammenreißen müssen, wie in einer WG oder sonstigen zeitlich flexiblen, jederzeit aufkündbaren Gemeinschaftsprojekten, in denen man gut riechen und interessant sein soll.
Das ist das Geheimnis der Familie, einer zieht die Socken aus, eine rümpft die Nase, aber der Sockenauszieher ist trotzdem integriert, er wird nicht verbannt, nur innerfamiliär gemobbt, gemobbt light, er ist schon daran gewöhnt und die anderen auch, Familienspiele, zum Gähnen langweilig. So langweilig, dass man gut schläft. Sie hat immer noch etwas Unentrinnbares, was zugleich zum Wahnsinn treibt und verdauungs- und schlaffördernd ist.
Warum schreibe ich eigentlich über Familie?
Eigentlich wollte ich über Luxemburg schreiben.