Robbie Williams surft weiter auf den Wellen seiner Jugend. Ein Konzertbesuch wird zum Lehrstück in Nostalgie

Verletzlichkeit, Stadionhymnen und Penis-Witze

Ganz vorne im Golden Circle auf der Luxepo
Foto: Hadrien Friob
d'Lëtzebuerger Land vom 14.07.2023

17.30 Uhr. Hitze, Luxexpo. Vor dem Stand von Eldoradio wurde ein Tisch mit roten Bechern aufgestellt. Vorbeigehende werden angelockt, um sich am Bier-Pong zu beteiligen. Die Zeitreise in die 90er-Jahre beginnt. Die Sonne drückt auf die Köpfe, das Publikum auf die orangefarbene Sauce Andalouse, die auf ihre gelben Pommes läuft. Es riecht nach Fa-Deo und Bofferding. Ein paar Zehen wippen zur Musik von Jamiroquai, die im Hintergrund läuft.

17.42 Uhr. Eine Besucherin ist mit ihrem Freund 170 Kilometer aus Namur hergefahren. Sie erwartet sich „Spektakuläres“. Ihr Gefährte hat Robbie Williams schon vor zwei Monaten in Paris gesehen. Der Golden Circle, wo die Nähe zur Bühne 188 statt 144 reguläre Euro kostet, füllt sich stetig. Selfies werden gemacht, gepostet, vergessen. Tania und Peggy sind Freundinnen und gut drauf. Tania wohnt hinter Weiswampach. Sie trägt ein rosa Jack-Daniels-Shirt und Undercuts. Peggys Tochter hat ihr die Konzertkarte zum Muttertag geschenkt. Als ihr Kind klein war, lief Robbie Williams zuhause rauf und runter. „Bei Johnny Depps Hollywood Vampires standen wir ganz vorne“, sagt Peggy. Tania ist kein großer Fan von Robbie, will aber „das eine oder andere Lied mitträllern“.

18.11 Uhr. Eine Frau tanzt und sticht mit ihren Fingern in die Luft. „Mir sin esou fad als Lëtzebuerger!“ ruft sie in die Runde. „Mee no e puer Pätt wäert dat scho goen.“ Das Publikum trägt T-Shirts, auf denen oft das Wort Love zu lesen ist. Manchmal steht dort auch Never give up oder Enjoy every moment. Die Zeit scheint zu zerfließen.

Robbie Williams, der 1990 durch Take That Weltbekanntheit erlangte und die Boyband 1995 verließ – 2010 gesellte er sich noch einmal kurz hinzu –, hat 18 Brit Awards gewonnen, 2008 1,6 Millionen Tickets an einem Tag und insgesamt mehr als 77 Millionen Alben in seiner Karriere verkauft. Eine Karriere, die mittlerweile mehr als drei Jahrzehnte andauert. Jetzt ist er fast 50, verheiratet und Vater von vier Kindern. Auf Instagram teilt er Ipad-Skizzen, witzelt über sein Alter und seine Dyslexie und präsentiert Werbebeiträge mit Felix, der Katzenfuttermarke, Golfmarken und Weightwatchers. In Großbritannien hat er mehr Nummer-Eins Alben hingelegt als Elvis Presley.

18.30 Uhr. Die luxemburgische Band Dreamcatcher wendet sich der etwas undankbaren Aufgabe zu, dem Publikum mit ihrem folk-inspirierten Rock eine Aufwärmübung darzubieten. Die Menschen lassen sich zu einem „Na-na-na-na“ hinreißen. Als der Frontmann John Rech dann die U2-Hymne With or without you anstimmt, singen viele mit. Robbie Williams mag Bono.

18.32 Uhr. RTL schaltet gefühlt alle fünf Minuten nach Kirchberg, um zu berichten und die Provinzialität des Großherzogtums zu unterstreichen. Eine Besucherin aus Trier trägt ein Robbie-Shirt, bezeichnet sich als Fan, aber kein „Riesenfan“. Das schöne Wetter und die Party, alles würde einen großartigen Abend versprechen.

18.46 Uhr. Weiße Sneakers, die aussehen, als wären sie vor zwei Tagen gekauft worden, sind das designierte Schuhwerk des Publikums. Etwa 10 000 sind es, am ausverkauften Dienstag werden es 15 000 sein. Melika und Dalira wohnen im französischen Department Maas und kommen öfter für Großevents nach Luxemburg, vor allem in die Rockhal. „Musik ist dafür da, die Gemüter zu beruhigen“, sagt Melika, auch im Hinblick auf die sozialen Unruhen in Frankreich. „Ca fait peur qu’ils foutent la merde.“

20.13 Uhr. Die Sonne verschwindet langsam hinter den Wolkenschwaden. Es wird kühler. Gaz Coombes‘ Set hat das Publikum eher kalt gelassen. Es fiebert Robbie entgegen, ein Aperol Spritz in der Hand.

20.56 Uhr. „Elo gëtt et awer bal Zäit, dass se ufänken, ech muss heem“, sagt eine Frau. Ihr Mann trägt ein Bowie-Shirt. Kann man die Popikone mit Williams vergleichen? „De Robbie ass schon e Mann vu Welt, dofir sin ech hei“, sagt er. Auf der Bühne leuchten die Initialen RW dunkelblau auf, eine römische XXV erscheint.

So heißt das aktuelle Album, das Hits wie Angels, Let me entertain you und She’s the one neu aufgenommen in sich vereint. Robbie sitzt in nackter Rodin-Denkerpose auf dem Cover. Vergangenes Jahr erklärte Williams der britischen Zeitung Guardian: „But do I unashamedly want to still be one of the biggest artists in the world? Yeah, I do.“ Aus diesem Grund arbeite er an neuen Projekten wie TV-Serien und an experimenteller Musik à la Lou Reed. Und schon vor zehn Jahren sagte er der gleichen Zeitung: „I still do phenomenally well. If I [were] a football team, I’d still qualify for Europe and I’d be in the last 16, at least.“ Im Interview mit RTL Today gab er an, er sei „ready for a second wind“. Dass er für seine Familie Geld nach Hause bringen will, gebe seinem Schaffen mehr Sinn. Wie soll jemand, der in so jungem Alter einen solchen Erfolg hatte, im Mainstream-Popbusiness altern? Alanis Morissette, die ähnlich früh „die Charts stürmte“, schlägt aus ihrem legendären Album Jagged Little Pill auch heute noch Musicals und Jubiläum-Tourneen raus. Beide sitzen in der Jury von Talentshows wie The Voice oder X-Factor. Relevant bleiben lautet die Devise.

21.00 Uhr. Ein blaues Schlaglicht, ein spitzbübischer One-two Mic-Check, dann kniet er da plötzlich, im goldenen Glitzeranzug in Elvis-Pose. Hunderte von Handys werden gezückt. Hey wow wow yeah yeah yeah clap your hands, rufen die Background-Sängerinnen. „My name is Robbie fucking Williams. This is my band, and this is my ass!“ Die mittlerweile grauen Haare sind mit Gel zur Irokese gegelt, im Hintergrund laufen Zusammenschnitte aus jungen Jahren. Er will gefeiert werden, und zeigt sich leicht irritiert von den schüchternen Luxemburger/innen. Nach Let me entertain you erklärt er, das Wichtigste an Unterhaltung sei, sein Publikum zu lieben. Dann läutet er eine kurze Pause ein, er habe Long Covid. „I’m fucked, it’s not my age.“ Die gleiche Aussage gab er zum gleichen Zeitpunkt während anderen Konzerten auf dieser Tour zum Besten.

21.27 Uhr. Jegliches Gefühl für Zeit löst sich langsam auf. Nach Karaoke-Lyrics zum Mitsingen, nach Come undone und einem Penis-Witz ist es Zeit für die erste Reise in die Neunziger. Take That-Videos werden projiziert und laufend von Robbie kommentiert, seine scheinbar immer noch nicht ganz verarbeitete Beziehung zu seinen ehemaligen Bandkollegen beschrieben. Irgendwann liegt dann Williams’ Hinterteil verpixelt auf der Leinwand. „My bum-bum doesn’t look like that anymore“. Auch ein Mann mit einem geschätzten Wert von 300 Millionen Dollar kann die Zeit nicht aufhalten.

Auf Körperlichkeit können sich alle einigen. Doch die Mischung aus Verletzlichkeit und Hinterteil- sowie Penis-Witzen, aus Balladen und Rauflust ist ein britisches Phänomen der 90-er, in rockigerer Form auch bei Oasis auffindbar. Da lässt Williams es sich nicht nehmen, eine weitere Hymne anklingen zu lassen, nämlich Wonderwall. Klappt, alle grölen mit. Keine Inflation, kein Krieg, kein Ende der Geschichte, keine Klimakatastrophe, jedenfalls für diesen einen Moment auf diesem (ziemlich hässlichen) Parkplatz nicht.

21.40 Uhr (?). Eine Frau tanzt so ausgelassen, dass ihr die Brille vom Kopf fällt. Robbie fängt an, über seine Depressionen zu erzählen, und dass seine Frau Ayda Field ihn gerettet hat. So glücklich wie jetzt sei er noch nie gewesen. Dann stimmt er Love my life an: I love my life / I am powerful / I am beautiful / I am free / (…) I am wonderful / I am magical / I am me. Juhu! An Energie fehlt es auf der Bühne trotzdem.

22.32 Uhr. Bei Feel singen auch die in der letzten Reihe mit. Klar, alle wollen richtige Liebe erleben und fühlen. Kids, im Original im Duett mit Kylie Minogue, vervollständigt das Set. Fast. Denn Robbie taucht noch einmal auf, diesmal im Samt-Priestermantel, und singt mit wenig Enthusiasmus No Regrets und She’s the one. Bei letzterem öffnen sich Rosenblüten auf der Leinwand, und eine auserwählte Französin wird in der ersten Reihe besungen. Dass die Tour für ihn eine Therapie ist, beweist er, als er zum Schluss auf die „negativen Stimmen“ in seinem Kopf eingeht. „Ich bin mit einer offenen Wunde auf die Welt gekommen“, erzählt Robbie. In den hinteren Reihen glänzen die Augen einiger. Alle hören gebannt zu. Er habe die Stimmen mit Drogen und Alkohol bekämpft. Aber damit sei schon lange Schluss. Das habe er seiner Frau, seiner Familie und auch der Unterstützung seiner Fans zu verdanken.

Tja.. sogar James Bond hat sich im Film Spectre (2021) zum verletzlichen Familienvater entwickelt. Die Offenheit über die eigene psychische Gesundheit kann man begrüßen, doch das auswendig gelernte Konfessionsmoment lässt kalt. Die Authentizität kann fast nur fehlschlagen, wenn sie in der Form bei jedem Konzert exakt gleich wiederholt wird.

22.45 Uhr. Anstatt Feuerzeuge leuchten Hunderte von Smartphone-Taschenlampen auf, als Robbie Angels anstimmt. Exit.

Sarah Pepin
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