Luxemburgensia

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d'Lëtzebuerger Land vom 03.04.2020

Keiner hat das Versprechen von Bibliotheken und Archiven so schön veranschaulicht wie A. S. Byatt in ihrem Roman Possession (1990): Bei Recherchen stößt ein Forscher auf einen Liebesbrief im Nachlass eines berühmten viktorianischen Dichters, den dieser an eine weibliche Kollegin adressiert hat. Ein Verhältnis der beiden war bislang nicht belegt, der Zufallsfund könnte in der Fachwelt eine Sensation auslösen. Der Literaturwissenschaftler lässt den Brief kurzerhand mitgehen und das Abenteuer kann beginnen. Nirgends scheint man den großen Dichtern und Denkern der Vergangenheit so nahe wie inmitten ihrer hinterlassenen Papiere. Sie sind die Reliquien eines immer noch florierenden Personenkults rund um Autoren und Autorinnen.

Nun sind die Bibliotheken und Archive geschlossen. Niemand geht in ihren Sammlungen auf Tuchfühlung mit Lyrikern des 19. Jahrhunderts. Sensationsfunde werden weder gemacht noch gestohlen. Stattdessen bemühen sich die Institutionen, ihr digitales Angebot hervorzuheben und auszubauen. In der Nationalbibliothek kann man seit einigen Wochen unkompliziert einen Nutzerausweis via E-Mail beantragen. Mit ihm stehen einem fast alle elektronischen Ressourcen zur Verfügung. Eine Ausnahme bildet etwa das im Aufbau befindliche Luxembourg Web Archive, das man ironischerweise nur vor Ort nutzen kann. Für den Rest lockt einen die BNL mit großen Zahlen: 620 000 E-Books, 77 800 E-Zeitschriften, 390 Datenbanken.

Big Data über die Heemecht

Der Großteil dieser Ressourcen richtet sich an Fachnutzer/innen. Sofern sie nicht auf Sondersammlungen angewiesen sind, ändert sich für sie, mal abgesehen vom Arbeitsplatz, vermutlich gar nicht so viel. Zeitschriftenartikel sind längst synonym mit PDF-Dateien. Monografien, die nur gedruckt erscheinen, riskieren in manchen Fachkulturen so viel gelesen zu werden wie verstellte Bücher. Dem breiten Publikum bietet die BNL die Möglichkeit, Belletristik, Sachbücher und Ähnliches auszuleihen, teils auch als Audiobooks. Die Auswahl ist stark französischlastig. Das vermeintliche Buch der Stunde, Albert Camus’ La peste (1947), war zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen übrigens noch zweimal vorhanden. Daniel Defoes A Journal of the Plague Year (1722), mit Blick auf die sozialen und politischen Dimensionen einer Quarantäne der vielleicht interessantere Text, ist nicht verfügbar, findet sich aber leicht an anderer Stelle.

Wer den krisenbedingten Leerlauf Zeit dazu nutzen möchte, sich in Sachen Landeskultur und -geschichte weiterzubilden, sei auf eluxemburgensia.lu verwiesen, wo in erster Linie digitalisierte Zeitungen, Zeitschriften und gemeinfreie Bücher zu finden sind. Neuester Zugang ist das Fachjournal Hémecht, dessen Hefte bis 2015 vollständig vorhanden sind. Ob man über Parallelen zwischen der Spanischen Grippe und dem neuen Coronavirus sinnieren oder einen verspäteten Beitrag zum „Historikerstreit“ beisteuern möchte, hier wird man mit reichlich Quellmaterial versorgt.

Entsprechende Informatikkenntnisse vorausgesetzt, ist vielleicht auch das „Open Data“-Projekt einen Blick wert. Hier kann man komplette Datensätze – momentan Texte und Metadaten von Zeitungen, weitere Sparten der Luxemburgensia sollen folgen – herunterladen und nach Belieben weiterverarbeiten. So sorgt etwa seit einigen Jahren der Literaturwissenschaftler Franco Moretti mit seiner „Distant reading“-Methode für Aufsehen: Moretti liest keine Texte, er wertet Unmengen von ihnen statistisch aus, um „Gesetze“ der Literaturgeschichte, etwa die Konjunktur bestimmter Gattungen, auszumachen. Wer weiß, sollte die Krise andauern, könnten manche, die sich bislang in den Archiven die Finger schmutzig gemacht haben, auf die Methoden der Digital Humanities umsteigen.

Literatur für Stubenhocker

Natürlich sind nicht alle Schriftsteller/innen auf einen Datensatz oder Kisten mit Briefen und Manuskripten reduzierbar. Manche leben noch, wollen gelesen werden und aus ihren Werken vorlesen. Das Luxemburger Literaturarchiv, das abgesehen vom Autorenlexikon keine nennenswerten elektronischen Ressourcen anbietet, hat sich vorgenommen, den Ausfall von Lesungen mit einer YouTube-Reihe zu kompensieren. Fürs Erste steht Kinder- und Jugendliteratur im Vordergrund. In der ersten Woche sind sechs Videos erschienen. Das CNL steht nicht allein da bei seinem Versuch, Lesungen ins Netz zu verlagern. Praktisch zeitgleich startete der selbsternannte „LiteraturLiwwerer“ Jérôme Jaminet eine tägliche YouTube-Reihe mit Nachwuchsautor/innen, während einige etabliertere Stimmen in Serge Tonnars Facebook-Serie Live aus der Stuff aufgetreten sind.

Das Angebot kann locker mit dem einer durchschnittlichen „normalen“ Woche mithalten – und das mit beachtlichen Zuschauerzahlen. In der ersten Woche kamen die Videos auf den Kanälen von CNL und Jaminet auf dreistellige Zahlen. Francis Kirps hatte bei Live aus der Stuff über 6 000 Aufrufe, Roland Meyer gar über 11 000. Sieht so aus, als sei Literatur aus Luxemburg in diesen Online-Videos um ein Vielfaches erfolgreicher als in ihren traditionellen Formaten.

Natürlich täuscht dieser Eindruck, ist ihre Popularität den besonderen Umständen geschuldet. Wie Meyer zu Beginn seiner Lesung erklärt, geht es schlicht darum, „eine Gemeinschaft zu beschwören“. Nüchtern betrachtet, sind viele der Videos belanglos und versprühen bestens den Charme von ad hoc Lösungen. Die mehr oder minder auratische Präsenz des Autors wird durch einen voyeuristischen Blick in Wohn- und Arbeitszimmer ersetzt, Exklusivität versprechende Signierstunden durch schnöde Hinweise auf den Versandhandel. Gute Vortragskunst wird, wo sie vorhanden ist, durch technische Mängel teils wieder verdeckt. Die Live-Videos auf Facebook erinnern mit ihren Echtzeitkommentaren unweigerlich an das Videospiel-Streaming, das diese Form virtueller Gemeinschaftsbildung entwickelt hat. Wir sind jetzt alle Stubenhocker, die anderen übers Internet beim Spielen zuschauen.

Ihre Relevanz dürften die Online-Lesungen jedenfalls auch nach der Krise behalten, denn sie stellen ein kulturpolitisches Statement dar, das in Debatten zu Förderungen, Kultur-Flatrates oder gar einem bedingungslosen Grundeinkommen aufgegriffen wird. Und, eines ist gewiss: Die Videos kommen ins Archiv.

Jeff Thoss
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