Streaming-Dienste erleben seit geraumer Zeit eine Hochphase. Das Angebot an Plattformen ist kaum mehr überschaubar. Die diversen Anbieter eint jedenfalls der trügerische Anschein, über ein möglichst umfassendes Spektrum an Filmen zu verfügen. Nichts ist weniger richtig. Da wo Netflix oder Amazon Prime mit Eigenproduktionen und einer großen Auswahl an Filmen werben, die nahezu einer all-you-can-watch-Philosophie verschrieben sind, da setzt Apple TV auf die rezentesten Kino-Blockbuster. Schaut man sich nun die Filmkataloge dieser populären Anbieter näher an, so fällt doch auf, wie sehr dieses Angebot doch gänzlich vom ahistorischen Zuschauer ausgeht. Wenn man Glück hat, findet man dort vielleicht einmal neben Alfred Hitchcocks Psycho (1960) oder Casablanca (1942) von Michael Curtiz den ein oder anderen Fassbinder. Und alles was sich dann gar nicht mehr in den festen Formaten der Genres denken lässt, wird bei diesen Streaming-Diensten wohl nie ins Programm aufgenommen. Wer sich allerdings auch für internationales und im Besonderen für europäisches Kunstkino interessiert, der wird von diesen Anbietern freilich nur enttäuscht. Und genau da versucht Mubi eine Lücke zu füllen. Gefördert durch das Creative-Europe-Media-Programm der Europäischen Union, bietet die Plattform eine breite Fülle an Filmen, die man ansonsten nur im Rahmen einer Retrospektive, im Programm einer Kinemathek oder – wenngleich immer seltener – im Nachtprogramm öffentlich-rechtlicher TV-Sender zu sehen bekommt. Wenn überhaupt.
So manch einer dieser Filme wird beim kommerziell-vorgeprägten Kinogänger auf Irritation stoßen. Das soll an dieser Stelle nicht als Warnung stehen, sondern vielmehr als Einladung. Es sind Filme, für die man sich Zeit nehmen muss, die das Auge schweifen lassen. Ob man das nun mit André Bazin oder Gilles Deleuze denken will – gerade darin bestand ja ein Aspekt der modernistischen Wende, die sich Anfang der 60er sukzessive auf der ganzen Welt vollzog. Als radikale Gegenbewegung zum etablierten klassischen Modell, das mit Hollywood auf der ganzen Welt zur Dominanz gelangte, wollen diese Umbruchsbewegungen neue Kinematographien schaffen, neue Wege gehen, mit der Form experimentieren, die kausallogische Handlungs-linien außer Kraft setzen.
Alains Resnais’ Hiroshima mon amour (1959) oder Vera Chytilovás Sedmirkarsky (Tausendschönchen, 1966) sind beispielsweise bei Mubi im Programm. Resnais’ Film ist einer der Auftaktfilme der Französischen Nouvelle Vague, der sich eindringlich mit der Vergangenheitsbewältigung nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt. Chytilovás Film ist eine satirische Provokation gegenüber sozialistischen Staatsregimes, ein Musterbeispiel der Tschechischen Neuen Welle, die wie kaum eine andere dem starren Dogma des Sozialistischen Realismus so nachhaltig und bedeutsam ein idealistisches künstlerisches Programm entgegensetzte.
Vor allem aber bietet Mubi Filme, die bereits zur Zeit ihres Erscheinens eine radikale Neupositionierung des Zuschauers verlangten. Ein aktiver Zuschauer soll das sein, der sich den Zugang zum Werk erst erarbeiten und den Sinngehalt für sich selbst erst aktiv produzieren muss. Wer willig ist, sich auf dieses Abenteuer einzulassen, der wird belohnt mit allerlei Farben, die das Kino abseits des Mainstreams zu bieten hat. Auch neuere Filmproduktionen, die man gemeinhin gerne mit dem Schlagwort „Arthouse“ besetzt, sind auf Mubi abrufbar. Da gibt es etwa die georgische Produktion Dzma (Eine Kindheit in Tiflis, 2014): eine ergreifende Geschichte über den Ausnahmezustand Georgiens nach der Ausrufung der Unabhängigkeit 1991 und ein Loblied auf die Schönheit der Musik. Und um die Musik geht es auch in Ilian Metevs ¾ (2017), ein bulgarisches Drama, das fast exklusiv nur auf Filmfestivals zu sehen war.
Freilich, auch bei Mubi bleibt man abhängig von der Auswahl des Anbieters, und die jeweiligen Filme sind nur zeitlich begrenzt verfügbar; der Umstand aber, dass dort ganz auf „handverlesenes Kino“ gesetzt wird, ist eine begrüßenswerte Alternative im gegenwärtigen Streaming-Dschungel, wo Inhalte von Anbieter zu Anbieter zirkulieren und die Bedeutung von Film als Kunst zunehmend verblasst. Eine Alternative in Zeiten, in denen „sich Zeit zu nehmen“ wieder eine Option geworden ist.