Eurokrise

Wo der Euro steht

d'Lëtzebuerger Land vom 22.06.2012

Griechenland hat eine Regierung. Die Börse dümpelt. Spanien wird abgestraft. Hedgefonds spekulieren gegen deutsche Anleihen. G20: Europa muss bei der Eurokrise liefern. Die Rezession schlägt Wurzeln. An diesem Wochenende will der Europäische Rat eine Roadmap für mehr europäische Integration zur Rettung der gemeinsamen Währung verabschieden. Europa ächzt unter der Globalisierung, die seine Schwächen gnadenlos aufgedeckt hat. Die Peripherie rund ums Mittelmeer macht sie zunehmend arbeitslos. Europa steht mit dem Rücken zur Wand. Bricht der Euro tatsächlich auseinander, bricht ökonomisches Chaos aus. Es ist möglich, dass der Gipfel vom Wochenende die Krise auf eine Bahn schieben wird, auf der es langsam aufwärts geht. Die Eurozone – und damit ganz Europa – steht so nahe am Abgrund wie nie zuvor. Viel Abstand bleibt nicht mehr.

Eines ist jetzt schon sicher. Nach der Krise, deren Ende noch nicht abzusehen ist, wird sich Europa grundlegend verändert haben. Das alte Europa der Nachkriegszeit geht gerade endgültig unter. Wie sieht das neue Europa aus, das vor unseren Augen entsteht?

Die Staaten werden Souveränität abgeben müssen. Es wird einen europäisches Finanzministerium geben und einen Finanzminister. Die Europäische Kommission wird die liberale Wirtschaftspolitik der Eurozone exekutieren. Das Europäische Parlament wird nicht die in nationalen Parlamenten übliche Mitsprache bekommen. Eine parlamentarische Versammlung von nationalen Abgeordneten soll möglicherweise in der Eurozone als Ersatzparlament einberufen werden. So hat das Europäische Parlament einmal angefangen. Ein größerer Rückschritt ist kaum vorstellbar. Die Europäer könnten plötzlich vor der Notwendigkeit stehen, für die Kontrollrechte ihres Parlaments, nicht über den Haushalt, aber über die zukünftige gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik kämpfen zu müssen. Auch das wäre ein Rückschritt bis zu den Anfängen der europäischen Integration.

Um die Entscheidungen der europäischen Staats- und Regierungschefs zu korrigieren, bedarf es eines mächtigen politischen Elans. Der ist nirgends sichtbar und damit wenig wahrscheinlich. Sinkt die Wahlbeteiligung 2014 weiter, wird das Europäische Parlament an Gewicht verlieren. Rat und Kommission werden Europa durch die Krise steuern und sich noch weiter von den Europäern entfernen, weil die volle demokratische Kontrolle fehlt. Der wachsende Abstand hat das Potential, sich zur Bremse im Integrationsprozess zu entwickeln. Noch mehr Integration ist nur mit der expliziten Zustimmung sämtlicher Europäer zu haben.

Die aber haben andere Sorgen. Die Maßnahmen zur Bewältigung der Wirtschaftskrise werden noch lange nachwirken. Liberalisierungen werden die Wirtschaft dynamisieren, was, neben dem Anstoß zu Wachstum, nichts anders bedeutet, als dass ein rauer Wind weht. Dieser Wind trifft auf teils erschöpfte, teils erschütterte, in jedem Fall aber auf eine alternde Gesellschaft. Die Europäer werden erschöpft aus der Krise herauskommen und dann zum ersten Mal mit voller Wucht spüren, wie alt ihre Gesellschaften doch geworden sind und wie schnell sie weiter altert. In der EU gibt es keine zahlreiche Jugend, die begierig ist, die Welt nach ihren Ideen umzugestalten. Dieser Teil der Menschheit ist aktiv in den Schwellenländern und in Afrika.

Die Europäer müssen sich dem 21. Jahrhundert stellen. Sie können sich nicht auf ihrem erreichten Stand ausruhen, sondern müssen ganz real ihren zukünftigen Wohlstand erst verdienen. Wie schwierig das mitunter ist und wie wild es dabei zugeht, zeigt der Abstieg von Nokia. Gestern noch unangefochten Marktführer kämpft der Konzern heute ums Überleben. Für die Industrie gilt in vielen Fällen der mittlerweile 20 Jahre alte Grundsatz, dass man heute nicht weiß, mit welchen Produkten und welcher Technologie man in zehn Jahren sein Geld verdienen wird. Der Wandel ist atemberaubend und die Europäer streiten sich um drei oder vier Jahre mehr Rente. Mit dieser Einstellung ist in Zukunft kein Staat mehr zu machen und kein Blumentopf mehr zu gewinnen.

Nimmt man die Entschlusskraft der europäischen Politiker in der Eurokrise als Maßstab, dann steht es schlecht um die Zukunft Europas. Nicht mal, dass sie die Europäer zusammengeschweißt hätte, kann man sagen. Gemeinsame europäische Ziele und Visionen, die mehr wären als Maßnahmen zur Beruhigung der Märkte, gibt es nicht. Europa stolpert in die Zukunft und muss aufpassen, dass es nicht hinfällt.

Bei abstrakt wirkenden Politikmaßnahmen geht schnell unter, dass es letztendlich immer um Menschen geht. Die Krise betrifft Millionen Europäer mit voller Wucht, auch wenn das in Luxemburg und seinen Nachbarländern so nicht zu spüren ist. Eine sich voll entwickelnde Rezession kann noch viele Europäer in Armut bringen. Nicht nur ihnen würde es helfen, wenn es ein Licht am Ende des Tunnels gäbe. Für dieses Licht sind in erster Linie die Politiker verantwortlich. Die verantworten sich wiederum vor ihren Wählern. Damit sitzen alle in einem Boot. Wie viel in der Krise von der Freiheit übrigbleibt, das konnte man letztes Wochenende in Griechenland beobachten. Zu behaupten, die Bürger hätten ihr Schicksal selbst in der Hand, klingt heute zynisch.

Nach den Haushalten müssen jetzt die von der Krise betroffenen Menschen in den Fokus der Politik geraten. Ihnen muss so oder so geholfen werden. Es sind mittlerweile so viele, dass sie die politischen Systeme erschüttern können. Ein Drittel radikale Wähler in Frankreich, noch mehr in Griechenland: Die Krise hat sich schon so festgefressen, dass den Armen helfen zu einer Maßnahme wird, die das System stabilisiert. So viel Geld hat Europa noch, dass es zum Schlimmsten nicht kommen muss.

Der Europäische Rat wird eine europäische Wirtschaftsregierung installieren, die über die Köpfe der Europäer hinweg entscheiden wird. Das mag eine notwendige Maßnahme sein für den Moment, hinreichend um die Krise endgültig zu überwinden, ist nur eine volle demokratische Kontrolle dieser Politik durch die europäischen Wähler. Auch auf diesem Fundament steht der Euro.

Christoph Nick
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