Bis Jahresende soll in Luxemburg die erste Daten-Botschaft ans Netz gehen

Estonia in the clouds

d'Lëtzebuerger Land vom 07.09.2018

Betzdorf bekommt in den nächsten Monaten rund 1,3 Millionen neue Einwohner. Um Kindergarten- oder gar Parkplätze muss sich aber niemand Sorgen machen: Die Esten eröffnen hier nur einen Zweitwohnsitz, und auch den nur virtuell. Ein eigener Server-Raum im staatlichen CTIE-Datenzentrum reicht, um alles zu speichern, was Estland wichtig ist.

Vielen Westeuropäern erscheint die Idee einer „Daten-Botschaft“ wahrscheinlich genauso abstrus wie ein Atombunker: Welchen Sinn soll es haben, Grundbücher, Handelsregister und Akten der Pensionsversicherung noch ein paar Monate oder vielleicht auch Jahre im Ausland aufzubewahren – wenn der dazugehörende Ursprungsstaat ausgelöscht wurde?

Aus estnischer Sicht ist es schlicht notwendig, Bits und Bytes zur Sicherheit auf diverse Speicher zu verteilen. Kein anderer Staat ist so digital wie die kleine Baltenrepublik: Alle Bürger haben eine ID-Karte mit Chip, die als Reisepass, Versicherungs- und Bibliotheksausweis, Führerschein oder Fahrkarte dient. Mit ihr wählen die Esten zum Beispiel online ihr Parlament, rechnen Steuern ab, lesen Krankenakten oder lösen Arzt-Rezepte ein. Persönlich bei einem Amt erscheinen müssen sie nur noch, wenn sie heiraten, sich scheiden lassen oder Grundstücke kaufen – und um ihre Chipkarte abzuholen.

Gesetze, wichtige Dokumente, praktisch die gesamte Verwaltung gibt es in Estland nicht mehr auf Papier. Dazu kommt das „E-Residency“-Programm, das mit einer virtuellen Staatsbürgerschaft light vor allem Unternehmer aus der ganzen Welt anziehen soll. Das alles ist sehr online, schnell und praktisch – aber auch verwundbar. Im Jahr 2007 legten Cyber-Angriffe, für die inoffiziell Russland verantwortlich gemacht wurde, in Estland zwei Wochen lang 58 wichtige Webseiten lahm: Behörden, Medien, Banken.

Wie können Daten intakt erhalten werden, wie bleibt der digitale Staat auch im Krisenfall handlungsfähig? Im September 2014 startete die estnische Regierung ein Forschungsprojekt mit Microsoft: Das Amtsblatt und die Webseite des Staatspräsidenten wurden auf die Cloud-Plattform „Microsoft Azure“ transferiert. Technisch erwies sich das als praktikabel. Unter dem Eindruck von Snowden-Enthüllungen und NSA-Affäre fand die Regierung dann aber, der Staat müsse die volle Kontrolle und Jurisdiktion über seine Daten und Informationssysteme behalten. Daher wurde eine andere Option untersucht: eigene Server in befreundeten oder wenigstens korrekten anderen Staaten.

Estland war immer schon virtuell, allerdings unfreiwillig. Über Jahrhunderte von fremden Mächten besetzt, vor allem Russen und Deutschen, lebte diese Nation lange nur in Volksliedern. Im sibirischen Gulag. Im Exil in London und Kanada. In einem Lager bei Stuttgart, wo Flüchtlinge ein Gesetzbuch verfassten. Der 1918/20 gegründete erste estnische Staat wurde 1940 von der Sowjetunion ausradiert. Bis zur erneuten Unabhängigkeit im Jahr 1991 wurde die Republik von ihrem Generalkonsul in New York vertreten: Ernst Jaakson weigerte sich zu sterben und hielt stur die blau-schwarz-weiße Flagge hoch. Die von Jaakson ausgestellten estnischen Pässe wurden von einer Handvoll westlicher Staaten anerkannt, darunter Luxemburg.

Nach der Wiener UN-Konvention von 1961 über diplomatische Beziehungen genießen Botschaften, Diplomaten und ihre Post Immunität. Aber gilt das auch für Digitalia? Die estnische Regierung wollte sich nicht darauf verlassen. Zuerst verhandelte sie mit Großbritannien über die Einrichtung einer „data embassy“. Dann wählte sie Luxemburg, weil das Land sicher sei und „klein und agil wie wir“. Die Frage, ob Betzdorf zu nah an Deutschland sein könnte, spielte für das Pilotprojekt keine Rolle. Am 20. Juni 2017 unterzeichneten die Premierminister Jüri Ratas und Xavier Bettel ein bilaterales Abkommen, das den estnischen Servern den gleichen Schutz und Extraterritorialität garantiert wie einer herkömmlichen Botschaft. Eine völkerrechtliche Premiere.

Im vergangenen Oktober unterschrieben Estlands IT-Ministerin Urve Palo und Luxemburgs Innenminister Dan Kersch einen Miet- und Leistungsvertrag, zunächst für fünf Jahre. Das estnische Wirtschaftsministerium plant dafür 2,2 Millionen Euro ein, die zu 85 Prozent aus EU-Fonds kommen sollen: eine Million für den Aufbau der Daten-Botschaft und 236 000 Euro pro Jahr für Miete und Datenkosten. Die laufenden Strom- und Verwaltungskosten sollen das „Centre of Registers and Information Systems“ (RIK) und andere teilnehmende Institutionen jeweils aus ihren Haushalten bestreiten. Im Rahmen seiner „Digital Agenda 2020“ will Estland insgesamt rund 219 Millionen Euro investieren, vor allem für schnelles Internet.

Nach dem Luxemburger Parlament ratifizierten in diesem März auch die Abgeordneten in Tallinn das Übereinkommen. Verschiedene estnische Einrichtungen, die über die Open-Source-Plattform „X-Road“ verbunden sind, testen derzeit ihre Systeme. Bis Ende 2018 sollen Kopien von zunächst zehn
prioritären Datenbanken nach Luxemburg ausgelagert werden, etwa Kataster, Gesetze, Statistiken, Personen- und Unternehmensregister.

Eine Reihe von Fragen ist dabei noch ungeklärt. Wie soll zum Beispiel das Back-up in Luxemburg immer aktuell und synchron mit den Daten in Estland bleiben, ohne dass sich Fehler einschleichen? Soll es irgendwo einen Notfall-Button geben, mit dem im Fall einer Invasion alle Daten sofort gelöscht werden können? Und wer darf da draufdrücken? Und was ist, wenn ein Feind einfach ein paar Esten einfängt, ihnen die ID-Karten abnimmt und sie so lange kitzelt, bis sie das Login-Passwort für Betzdorf verraten? Wer den Atomkrieg und die damit verbundenen Diskussionen liebte, der wird auch den Cyber-War mögen.

Grenzenloses Heim für Weltbürger

Seit Ende 2014 bietet Estland allen Menschen, die älter als 18 und ohne Vorstrafen sind, eine „E-Residency“ an, eine virtuelle Zweit-Staatsbürgerschaft. Damit ist kein Aufenthaltsrecht verbunden, kein EU-Visum, auch kein Wahlrecht, Steuer-Wohnsitz oder Anspruch auf Sozialleistungen. Digital-Esten haben aber Zugang zu den staatlichen Online-Diensten, können zum Beispiel ein EU-Unternehmen gründen und dann von jedem beliebigen Ort aus betreiben.

Die Teilnahme kostet 100 Euro für drei Jahre. Passfoto, Ausweiskopie und formlose Bewerbung sind hochzuladen. Nach Überprüfung durch die Grenzpolizei kann man bei einer estnischen Botschaft, zum Beispiel in Brüssel (nicht aber in Betzdorf!), seine Fingerabdrücke abgeben und ein blaues Kästchen mit seiner persönlichen ID-Karte mitnehmen.

Eine Unternehmensgründung dauert in Estland 18 Minuten (Guiness-Weltrekord) und kostet 190 Euro. Das Mindestkapital für eine Gesellschaft mit begrenzter Haftung (OÜ) sind 2 500 Euro. Wer Bankkonto, Geschäftsadresse und Postweiterleitung braucht, sollte ab rund 15 Euro pro Monat Virtual-Office-Anbieter wie LeapIN anheuern. Reinvestierte Gewinne sind steuerfrei; auf Ausschüttungen werden 20 Prozent Flattax fällig.

„E-Residency“ versteht sich als „Regierungs-Start-Up“ und will exponentiell wachsen: Bis 2025 sollen zehn Millionen Neu-Esten gewonnen werden. Im August 2018 waren 41 247 e-Residenten aus 163 Ländern registriert. Sie haben 6 674 Unternehmen angemeldet. Die meisten Digital-Bürger kommen aus Finnland (4 000), Russland (2 700) und Ukraine (2 400). Ein Drittel ist 30 bis 40 Jahre alt; nur zwölf Prozent sind Frauen.

Die eifrigsten E-Firmengründer in Estland sind Ukrainer (508), Deutsche (376) und Russen (362). Das Programm zog zuletzt besonders Briten an, die trotz Brexit EU-Zugang suchen, und Türken, die ein PayPal-Verbot umgehen wollen. Aus Luxemburg gibt es bislang bloß 27 E-Esten, die sechs Firmen registriert haben – das ist Platz 83, zwischen Palästina und Afghanistan.

Ab 2019 plant Estland ein „Digitales Nomaden-Visum“, das 365 Tage physischen Aufenthalt in Estland, aber auch 90 Tage Schengen-Raum erlauben soll. Bislang ist allerdings unklar, was die anderen EU-Staaten von so viel Weltbürgertum halten.

Informationen: e-resident.gov.ee

Estlands Digital-Schaufenster: e-estonia.com

Martin Ebner
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