LCGB-Präsident Patrick Dury schwitzte ganz schön viel am Mittwoch in Remich, wo der christliche Gewerkschaftsbund seit 2017 alljährlich am Tag der Arbeit seine politische Kundgebung samt Familienfest abhält. Die Sonne schien und bereits am Morgen war es heiß im Festzelt „près de la Picine“ an der Esplanade. Gegen 9.30 Uhr empfingen Dury und sein Generalsekretär Francis Lomel die ersten prominenten Gäste vom sozialen, gewerkschaftsnahen Flügel der CSV: Jean und Marc Spautz, der Escher Bürgermeister Christian Weis, der Stater Umweltschöffe Maurice Bauer und die Sanemer Finanzschöffin Nathalie Morgenthaler versammelten sich an einem der beiden Kaffee-Stände vor dem Zelt. Gesundheits- und Sozialministerin Martine Deprez (CSV), die einzige dieses Flügels, die es im November in die Regierung schaffte, hatte sich bunter gekleidet als ihre männlichen Kollegen. Der Oppositionsabgeordnete Ben Polidori von den Piraten irrte etwas orientierungslos umher.
Das Promi-Defilee und der Selfie-Marathon begannen aber erst um 10.10 Uhr, als Außenminister Xavier Bettel und die hauptstädtische Bürgermeisterin Lydie Polfer liberales Stater Flair an die Mosel brachten. Patrick Dury und Francis Lomel liefen ihnen winkend entgegen. Sie schossen gemeinsame Erinnerungsfotos und hätten fast CSV-Finanzminister Gilles Roth übersehen, der zeitgleich ankam. Danach erschienen die DP-Kandidat/innen für die Europawahl: Charles Goerens, Gusty Graas und Nancy Braun, später auch Christos Floros und Amela Skenderovic. Patrick Dury rannte von einem zum anderen, wischte sich zwischendurch immer wieder mit einem Tuch die glänzende Stirn ab, um auf den Fotos auf Facebook nicht wie ein verschwitzter Bauarbeiter auszusehen. Arbeitsminister Georges Mischo und Premierminister Luc Frieden (beide CSV) kamen erst kurz bevor Dury seine Rede begann. Frieden hatte seine Presse-Attachée Caroline Schloesser, CSV-Kandidatin bei den Gemeindewahlen in Walferdingen, zu einer Feiertagsschicht als Fotografin verdonnert, weil er selbst in der Selfie-Kunst offenbar noch nicht so geübt ist wie etwa sein Vorgänger und Vizepremier Bettel. DP-Präsident Lex Delles, Generalsekretärin Carole Hartmann und der Fraktionsvorsitzende Gilles Baum lösten nach der politischen Ansprache Bettel und Polfer ab; auch die CSV-Europawahl-Kandidat/innen Isabel Wiseler (mit ihrem Ehemann, dem Kammerpräsidenten Claude), Metty Steinmetz (mit Emile Eicher) und Martine Kemp (mit ihrer Schwester Françoise) kamen erst zur Mittagszeit, als Frieden das Festgelände schon wieder verlassen hatte.
Vor zwei Jahren hat die bis dahin eher der Staatsbeamtengewerkschaft nahe stehende DP den LCGB als neuen Alliierten entdeckt. Damals, im Frühjahr 2022, hatte nur der OGBL die Indexverschiebung bei der Tripartite abgelehnt, LCGB und CGFP hatten am Ende eingelenkt. Um sich erkenntlich zu zeigen, hatten der damalige Premierminister Xavier Bettel, Finanzministerin Yuriko Backes und Familienministerin Corinne Cahen, aber auch die Vertreter/innen der anderen Regierungsparteien – LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert und der grüne Mobilitätsminister François Bausch – der christlichen Gewerkschaft am 1. Mai einen Besuch abgestattet. Die Fotos, die sie mit Patrick Dury schossen, kamen in den sozialen Medien offenbar gut an, so dass sie ihren Besuch im Superwahljahr 2023 wiederholten. Die damalige Oppositionspartei CSV war anfangs wenig begeistert, dass die Dreierkoalition ihnen ihren historischen Alliierten ausspannen wollte, deshalb schickte vergangenes Jahr auch sie ihren Spitzenkandidaten Luc Frieden nach Remich. Seit dem Regierungswechsel im November haben die politischen Fronten sich verschoben. Von der LSAP und den Grünen kam diesmal keiner zum LCGB, ihre Abgeordneten und Europawahl-Spitzenkandidat/innen gingen mit der Linken und der KPL zum OGBL ins Neimënster: Franz Fayot und François Bausch, Marc Angel und Tilly Metz, Taina Bofferding und Djuna Bernard, Fabrizio Costa und Danielle Filbig, Francine Closener und Dan Biancalana.
„Sidd der gutt drop?“, schrie Patrick Dury am Mittwoch kurz nach 10.30 Uhr ins Mikrofon. Im Publikum ertönten Trillerpfeifen und Hupen. Die hohen Gäste, die direkt vor der Bühne saßen, hörten gespannt zu. Die Rede des LCGB-Präsidenten war für seine Verhältnisse kritisch, doch eher subtil als plakativ. Vor dem Hintergrund der Europawahl positionierte er den LCGB als antifaschistische Gewerkschaft, die gegen Populismus und Rechtsextremismus sei, gegen jede Form von Intoleranz, Hass, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Homophobie, Sexismus „an des Weideren nach méi“. Frieden und Bettel klatschten. Ihre Begeisterung nahm erst ab, als Dury die „schwiereg Dossieren, ewéi d’Pensiounen oder d’Reform vum Kollektivvertragsgesetz“ ansprach. Um zu einem bestmöglichen Resultat zu gelangen, sei der LCGB bereit, in diesen Fragen mit den anderen national repräsentativen Gewerkschaften zusammenzuarbeiten. Für die Regierung muss es wie eine Drohung geklungen haben.
Eine Einheitsgewerkschaft, wie OGBL-Präsidentin Nora Back sie am Mittwoch auf der Feier ihres Syndikats im Neimënster erneut diskret forderte, lehnt der LCGB weiterhin ab. Bei den Sozialwahlen im März hatte er vor allem auf Unternehmens-
ebene Erfolge erzielt: Im Transport- und im Reinigungssektor, in der Logistikbranche und in einigen großen Betrieben in der Industrie, im „Gardiennage“ und im Bauwesen. „D’Sozialwale vum 12. Mäerz hunn den LCGB a senger Positioun hei am Land gefestegt, a stellen eng zolidd Basis duer, op därer mir déi nächst Joren eis Gewerkschaftspolitik weider kënnen entwéckelen“, meinte Dury. Die LCGB-Mitglieder würdigten seine Ansprache mit Standing Ovations. Auch die Regierungsmitglieder erhoben sich und klatschten.
Vielleicht ist es ein Zeichen der Zeit, dass der politische 1. Mai des LCGB sich zu einer selfie-tauglichen Polit-Show entwickelt hat. Die neoliberale CSV-DP-Regierung und ihr Premierminister Luc Frieden, der vor nicht einmal anderthalb Jahren als Handelskammerpräsident noch einer der Hauptvertreter des „Klassenfeinds“ war, scheuen sich nicht davor, sich mit führenden Gewerkschaftern fotografieren zu lassen, deren Ansichten sie offensichtlich nur sehr bedingt teilen. Die Forderung nach Einkommensumverteilung tun sie als „Neid-Debatte“ ab; Durys Vorschlag einer Tripartite zur Lösung der Rentenfrage macht sie nervös; den 78-Wochen-Referenzzeitraum für Anspruch auf Krankengeld abzuschaffen und anzuerkennen, „datt e Mënsch esou laang krankgemellt ass, bis en erëm ka schaffe goen oder bis en an der Invaliderent oder reklasséiert ass“, würden sie den Arbeitgeberverbänden niemals „zumuten“.
Dass ausgerechnet die kleinste der beiden im Privatsektor engagierten national repräsentativen Gewerkschaften von rechtsliberalen Politiker/innen vereinnahmt wird, ist kein Zufall. Es ist der geschickte Versuch, die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung aufrechtzuerhalten. Der LCGB eignet sich dafür besonders, denn er ist mit seinen 47 500 Mitgliedern nicht nur schwächer, sondern auch konsensorientierter als der OGBL, der seit einigen Jahren auf parteipolitische Befindlichkeiten kaum noch Rücksicht nimmt. Linke Gewerkschafter behaupten sogar, der LCGB sei vor über 100 Jahren nur zum Zweck der gewerkschaftlichen Spaltung gegründet worden.
Der OGBL und seine 76 000 Mitglieder befinden sich seit der Tripartite vom Frühjahr 2022 in der Opposition. Nach dem Regierungswechsel hat sich seine oppositionelle Haltung noch verschärft. Bei der Wahl zur Chambre des Salariés wurde diese Haltung bestätigt und politisch legitimiert: 132 000 (der insgesamt 210 000 an der Wahl teilgenommenen) Arbeitnehmer/innen gaben dem OGBL ihre Stimme – bei den Kammerwahlen konnten CSV und DP gemeinsam nur 119 000 (der insgesamt 250 000) Wähler/innen von sich überzeugen. Mit 37 Sitzen konnte die unabhängige Gewerkschaft ihre absolute Mehrheit verteidigen, während der LCGB einen seiner vormals 18 Sitze an die Aleba verlor. Auch auf Betriebsebene konnte der OGBL seinen Einfluss vergrößern, in Branchen vordringen, die bislang als gewerkschaftsfrei galten.
Entsprechend selbstbewusst trat Nora Back am Mittwoch im Neimënster auf. Sie brachte ihre Forderungen nach einer „Ëmverdeelung vun uewen no ënnen“ weitaus offensiver und kämpferischer als Patrick Dury vor; forderte eine direkte Beteiligung der Gewerkschaften nicht nur bei arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Entscheidungen, sondern auch bei der Bildung, in der Steuerpolitik, beim Wohnungsbau, in gesundheits- und klimapolitischen Fragen. Sie verurteilte die „ungezügelte, kapitalistische Ausbeutung der Arbeit und der natürlichen Ressourcen“, bezeichnete Friedens Trickle-down-These als „ideologescht Märche vun de Superräichen“ und drohte der Regierung damit, auf die Straße zu gehen, falls sie das öffentliche Rentensystem an „privatkommerzielle“ Versicherungen ausverkaufe. Sie kritisierte die von CSV und DP geplante Senkung der Betriebssteuer und forderte die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine höhere Kapitalbesteuerung – Geld, das für Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur benötigt werde.
Der 1. Mai hat die gesellschaftliche Spaltung, die sich seit Oktober durch Luxemburg zieht, noch einmal verdeutlicht. CSV und DP dürften sich vom antikapitalistischen Säbelrasseln des OGBL kaum beeindrucken lassen. Andererseits kann die Regierung die Forderungen der Gewerkschaften nicht vollständig ignorieren, wenn sie den als wirtschaftlichen Standortfaktor geltenden sozialen Frieden nicht aufs Spiel setzen will. In zentralen Angelegenheiten könnten die Haltung und die intersyndikale Solidarität des LCGB entscheidend sein. Insbesondere bei den Renten und der Reform des Tarifvertragsgesetzes wird die christliche Gewerkschaft in den nächsten Jahren Farbe bekennen müssen. Zwar hat Dury am Mittwoch eine gewerkschaftsübergreifende Zusammenarbeit in diesen Fragen angekündigt und auch die bedingungslose Verteidigung des Indexmechanismus in Aussicht gestellt, doch der regierungsnahe Kurs, den der LCGB seit einigen Jahren pflegt, könnte Zweifel an seinen Bekenntnissen aufkommen lassen. Dury bedankte sich am Mittwoch nicht nur bei Xavier Bettel, der es als Premierminister bei den letzten Tripartiten geschafft habe, „innovativ kënnen ze denken, an nei Weeër ze goen“, sondern auch bei CSV-Arbeitsminister Georges Mischo, der im Namen der Regierung die Erklärung von La Hulpe für ein sozialeres Europa mitunterzeichnet hat.
Unklar ist aber, was den LCGB darüber hinaus politisch mit der DP und der „neuen“ CSV noch verbindet. Mit den Liberalen vielleicht, auf europäischer Ebene nicht mit Populisten und Rechtsextremen zusammenzuarbeiten. Die EVP, der die CSV angehört, schließt selbst das nicht kategorisch aus: Sie hat in den vergangenen Monaten mit den Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni geflirtet, dem Ruanda-Modell Großbritanniens ähnliche Lösungen zur Ausgrenzung von Geflüchteten vorgeschlagen, die CSV-Europaabgeordneten Isabel Wiseler und Martine Kemp stimmten vergangene Woche mit den rechten und rechtsextremen Parteien gegen die Einführung eines EU-Ethikgremiums.
„D’Veraarmung vun ëmmer méi breeden Deeler vun der Gesellschaft an de sozialen Ofstig an d’Perspektivlosegkeet, déi si provozéiert, ass den Nährbuedem fir déi brisant geféierlech politesch Entwécklunge wéi mer se a ville Länner erlie-
wen“, warnte Nora Back am Mittwoch. Auch Patrick Dury forderte ein sozialeres Europa und führte den von der rechtspopulistischen Ukip initiierten und von den konservativen Tories vollendeten Brexit als Paradebeispiel für rechtspopulistisches Scheitern an: „Ekonomesch a sozial geet et der grousser Majoritéit vun de Britten nom Brexit eben net besser, mee vill méi schlecht.“ Zumindest in europapolitischen Fragen stehen die beiden Gewerkschaften, die in der Chambre des Salariés eng zusammenarbeiten, sich vermutlich näher, als es manchmal den Anschein hat.
Auf gewerkschaftspolitischer Ebene sind vor allem die ideologischen Differenzen augenscheinlich. Obwohl der Diskurs der OGBL-Präsidentin in dieser Hinsicht kämpferisch war, ließ sich am Mittwoch erkennen, dass die Sozialwahlen vorbei sind. Schon alleine daran, dass Nora Back die Exklusivrechte der CGFP bei der Verhandlung des Gehälterabkommens mit dem Staat – anders als noch vor ein paar Monaten – nicht mehr in Frage stellte. Denn sollte die CSV-DP-Regierung tatsächlich umsetzen, was sie bislang nur vage angekündigt hat, wäre für die Gewerkschaften die Intersyndicale vielleicht so wichtig, wie schon lange nicht mehr.