„Die Luxemburger Kritik sagt fast nur ja. Sie tut, als müsste hier jedem gedankt werden, der überhaupt eine Feder oder einen Pinsel in die Hand nimmt“, schrieb Joseph-Emile Muller, Redaktionsmitglied der Zeitschrift Neue Zeit im Jahr 1936. Knapp 90 Jahre später stellt man fest: Passt immer noch – irgendwie. Fast ein Jahr ist es her, dass Vertreter/innen des luxemburgischen Kulturjournalismus und der kulturellen Häuser in den Rotondes saßen, um über folgende Fragen zu sinnieren: Wie kann ernst zu nehmender Kulturjournalismus in einem kleinen Land existieren, das eine winzige Öffentlichkeit bietet? Wie soll man dem immer größer werdenden kulturellen Angebot journalistisch gerecht werden, wenn die Kulturredaktionen stetig schrumpfen und die Konkurrenz des Internets allgegenwärtig ist? Vergangene Woche ist zum Thema das erste Cahier du ministère de la culture erschienen – hip vom Studio Polenta gelayoutet und auf umfangreichen 116 Seiten. Die Ambition des Berichts sei „ein kleines, wenig studiertes Segment der derzeitigen Medienlandschaft so umfangreich wie möglich zu beschreiben“, schreibt die Autorin Josée Hansen, die Kulturjournalistin und später Chefredakteurin dieser Zeitung war. Zwei Jahre lang recherchierte sie, indem sie Interviews mit den verantwortlichen Journalisten führte, Fragebögen verschickte und sich einen Monat lang zum Beispiel notierte, wie viel Umfang die Kultur in den Zeitungen in Anspruch nimmt.
Die gesamte Medienlandschaft, von RTL über L’Essentiel hin zu Forum, wird unter diesem Gesichtspunkt veranschaulicht, auch im Rahmen der im reformierten Pressehilfe-Gesetz vom 30. Juli 2021 eingeschriebenen Notwendigkeit, Kulturberichterstattung zu leisten. Es finden sich Zahlen wieder, die man in dieser Form zwar ahnte, aber nicht exakt beziffern konnte; sie zeigen die Art und Weise, wie Medien Kultur priorisieren – oder eben nicht. Abgebildet sind insgesamt fünf Tageszeitungen, fünf Wochenzeitungen, zehn Zeitschriften, ein nationaler Fernsehsender und fünf Nischensender, sechs Radiosender, acht Kulturrevuen, zwölf Kulturblogs und fünf Onlinemedien. Dort arbeiten insgesamt 50 Kulturredakteur/innen und 70 freie Kultur-Mitarbeiter. Mit einer Auflage von rund 50 000 hat das Luxemburger Wort die Nase bei der Presse vorn, was den Verstärkungseffekt angeht. Wendet sich eine der vier festangestellten Kulturredakteur/innen einem Kulturevent zu, schlägt sich das direkt auf dessen Verkaufszahlen nieder, heißt es im Bericht. Damit hat die Tageszeitung genauso viele angestellte Journalisten im Kulturressort vorzuzeigen wie Paperjam, zweimal mehr als Delano und viermal mehr als das Femmes Magazine.
Die Prekarisierung sieht weiter wie folgt aus: Im Tageblatt, im Quotidien, im Land, bei Bold oder Radio Latina arbeitet jeweils ein Kulturredakteur. Eine Mammutaufgabe, bedenkt man die Fülle an Angeboten, die rezipiert werden könnten oder sollten. Sogar in der Woxx, mit vier Kulturjournalisten von insgesamt zehn personaltechnisch gesprochen gut aufgestellt, erklärt die Ressortverantwortliche Isabel Spigarelli im Bericht, man müsse bei der Berichterstattung selektiv vorgehen. Eine Einschätzung, die die ehemalige Kulturchefin von RTL, Christiane Kremer, teilt. Auch dort arbeiten derzeit vier Kultur/journalistinnen medienübergreifend zwischen Web, Fernsehen und Radio – und das für einen Marktanteil von bis zu 35,4 Prozent (laut Ilres Plurimedia). Ebendiesem audiovisuellen Riesen RTL wird im Bericht ein medienhistorischer Exkurs gewidmet und somit an die kulturjournalistisch relevante Rolle erinnert, die der Sender im 20. Jahrhundert spielte: „Diffusant à partir de la mythique Villa Louvigny, le groupe assura durant presque un siècle une importante mission de rayonnement culturel, entretenant même son propre orchestre de 1933 jusqu’en 1996.” Und seine Vorherrschaft wird wie folgt definiert: „Le micro rouge de RTL reste la force de frappe pour faire exister un événement au Luxembourg, qu’il soit politique, sportif, social ou culturel.”
Auch kleinere, zum Teil nicht mehr betriebene Medien wie der Musikblog Disagreement oder das Künstlermagazin Salzinsel werden genannt. Am interessantesten sind die gesammelten Beobachtungen, die die verantwortlichen Redakteur/innen liefern und die einen weiten, diversifizierten Blick auf die kulturjournalistische Landschaft bieten. So gibt der ehemalige Chefredakteur der Revue, Stefan Kunzmann, an, online gäbe es wenig ernst zu nehmende Kulturkritik. Grégory Cimatti, alleiniger Kulturverantwortlicher beim Quotidien, sieht dagegen in der Informationswelle des Netzes schon Konkurrenz für die spezialisierten Kulturjournalisten. Ian de Toffoli, Verleger und Redaktionsleiter der Cahiers luxembourgeois, spricht zwei zentrale Punkte in der Debatte an, nämlich die Beschleunigung der Welt, die auf diese Sparte des Journalismus einen vielleicht noch größeren Einfluss hat als auf den Rest. Immerhin braucht man mehr Zeit, sich kritisch mit einem Werk auseinanderzusetzen. Auch die Schwierigkeit, ein treues Publikum zu finden, gibt er an.
Ist das alles nun Jammern auf hohem Niveau? Dass die Medienkrise besonders an den Kulturetagen – oder besser gesagt am einzelnen Kulturtisch des Open-Office-Spaces – rüttelt, ist altbekannt. In Luxemburg haben die Medien es dank Pressehilfe immer noch einfacher als im Ausland. Doch auch hier wird an Kultur gespart, vor allem bei Honoraren von Freelance-Kulturjournalisten, einem Beruf, der in dieser Form eigentlich nicht existiert. Dem Feuilleton haftet ein Makel an. Es wird wenig gelesen – lediglich vier Prozent der Wort-Leserinnen gaben 2016 an, die Kulturseiten überhaupt anzuschauen. Eine Theaterkritik klickt sich kaum. „Dabei geht es nicht darum zu sagen, ob es ein Top oder Flop ist, sondern um einen Diskursaufbau, um zu verstehen, was etwas über unsere Gesellschaft aussagt“, sagt die Autorin des Berichts Josée Hansen im Gespräch mit dem Land.
Ein weiterer Aspekt, der beim Workshop vergangenes Jahr nur kurz besprochen wurde, jedoch für den Kulturjournalismus in Luxemburg durchaus ausschlaggebend ist, ist die Größe des Landes und der damit oft einhergehende Mangel an Distanz, der für unabhängige kulturelle Kritik unabdingbar ist. Sehr selten liest man von Grund auf kritische Rezensionen von Ausstellungen, Büchern oder Filmen. Niemand macht sich im Mikrokosmos gerne zum Feind. Dabei war das nicht immer so.
Als „kompromiss- und rücksichtlos“ wurde Emil Marx, Journalist und Schriftsteller, der bis Anfang der 60-er Jahre schrieb, betitelt, wie Henri Wehenkel im gleichnamigen Buch über ihn festhält. Marx machte in seinen Kritiken vor niemandem halt. Er schnörkele nicht, er packe zu, schrieb sein Freund, der Journalist Albert Hoefler, über ihn. Das hörte sich in der Zeitschrift Junge Welt dann folgendermaßen an: „Herr Oberschulinspektor Welter veröffentlicht ein Bändchen Verse, die zwar schlecht sind, aber keineswegs lustig. Man durchstöbert das Bändchen nach Oasen, die göttliche Heiterkeit auslösen könnte, denn etwas muss einen doch, so denkt man, für die Mühe entschädigen, diese Oede durchwandert zu haben. Man hat den Eindruck: Hier ist einer, der nicht aufhören kann zu schreiben. Er ist längst tot und schreibt noch immer.“ Figuren, die so schreiben, findet man heute wenig.
Besser eine schlechte Kritik, als gar keine, hieß es immer. Das trifft in Luxemburg mittlerweile weniger zu. Wenn ein Künstler nur eine mediale Reaktion bekommt, und es ist ein Verriss, kann das umso zerschmetternder sein. „Die Distanz, die eigentlich nötig wäre, um kritisch zu sein, ist hier gar nicht erwünscht“, sagt Jeff Schinker, verantwortlicher Kulturredakteur des Tageblatt. Aus dieser Kollegialität entstünde zum Teil auch die Unfähigkeit, mit „schlechter“ Kritik umzugehen. Er würde für seinen Teil versuchen, die Dinge zu trennen und so objektiv wie möglich an das Werk heranzugehen – und dabei die Person, die dahinter steht, möglichst auszublenden. Besorgniserregend sei der Mangel an neuen Stimmen, die Kultur kritisch beleuchten wollen, meint Schinker. Er fragt sich, ob die Art und Weise, wie kritischer Berichterstattung auf Social Media begegnet würde, mit Shitstorms und Anfeindungen, nicht auch junge Menschen davon abhalten könne, den Beruf zu ergreifen.
Wahrscheinlich wäre es zu kulturpessimistisch, den Abstieg des Kulturjournalismus allein am Verschwinden von Persönlichkeiten festzumachen. Nach dem Motto, die meinungsstarken Boomer gehen in Rente, die Tik-Tok schauenden Jugendlichen piekt das Ganze nicht mehr genug, um sich damit zu befassen. Ganz falsch wäre es aber auch nicht, denn die Kakophonie an Information und der Verlust an Aufmerksamkeitsspanne lassen sich nicht wegswipen.
Das Cahier des Kulturministeriums kann man sowohl vom Stil als auch vom Inhalt her als journalistische, semi-akademische Recherche einordnen; die Autorin fällt kaum qualitative Urteile, zeugt jedoch von viel Fachwissen und Enthusiasmus für die Sache. Man darf sich mit Blick auf den Umfang und die Zahl Eins auf dem Cover fragen, ob das Kulturministerium nun selber anfängt, journalistisch recherchierte Inhalte zu publizieren? Josée Hansen winkt ab. Es sei eine Grundlage, mit der auch später Studenten arbeiten könnten, in erster Linie aber die Schaffung einer Faktenlage, damit man ordentlich diskutieren könne. „In 30 Jahren können wir darauf hinweisen, wie viele Journalisten es heute noch gab“, sagt sie, schiebt ein Lachen hinterher. Und es eigne sich auch als Grundlage einer Evaluierung der Erweiterung der Pressehilfe. Ein weiteres Cahier sei gegen Ende des Jahres zur Ressourcerie geplant. Letztere ist ein vom Ministerium geplantes Projekt, wo Bühnenbilder und ähnliches wiederverwertet werden könnten.