Die lokale Berichterstattung in den Tageszeitungen verliert seit Jahren an Stellenwert. Das hat nicht nur Folgen für den sozialen Zusammenhalt, sondern auch für die Demokratie

Ein Echo von Missständen

d'Lëtzebuerger Land du 29.07.2022

Arezzo Der altehrwürdige Alvin Sold sitzt auf der Terrasse seines gemieteten Ferienhauses auf einem Hügel in der Toskana und liest den Corriere di Arezzo. Die Regionalzeitung der 335 000 Einwohner zählenden Provinz südöstlich von Florenz macht am Dienstagmorgen mit einer Unterschriftensammlung gegen den Bau eines Schnellzuges auf. Eine weitere wichtige Story ist die Affäre um einen 70-jährigen Stalker, der eine 28-jährige Frau belästigt hat. Eine ganze Seite widmet der Corriere einer Baustelle und berichtet über die geplante Schließung einer Käsefabrik, die 20 Mitarbeiter/innen beschäftigt. Die Nachricht, dass Elon Musk ein altes Schloss im benachbarten Siena kaufen will, wird nur am Rande behandelt. In Mittelitalien haben viele Provinzen noch eine eigene Lokalzeitung. Möglicherweise könnten sie nur überleben, weil die Bevölkerung homogener sei und die Menschen eine gemeinsame Sprache sprechen, mutmaßt der langjährige Generaldirektor von Editpress und Tageblatt-Chefredakteur, und sinniert über die Zeiten, in denen Lokaljournalismus auch in Luxemburg noch eine Zunft für sich war: Das Lokale sei stets auch ein „Echo von Missständen“ gewesen, sagt Sold. Heute könne es diese Rolle nur noch bedingt erfüllen.

Das Luxemburger Wort hat seine Lokalredaktion im Rahmen von Sparmaßnahmen und „Umstrukturierungen“ in den vergangenen Jahren quasi halbiert. Auch das Tageblatt verfügt heute über weniger Lokaljournalisten als noch vor zehn Jahren. Was aber vor allem abgenommen hat, ist die Zahl der freischaffenden Korrespondenten. Jahrzehntelang berichteten sie gegen ein kleines Taschengeld aus Gemeinderäten, von Generalversammlungen, Grundsteinlegungen, Geschäftseröffnungen, Einweihungen, Ehrungen und Schecküberreichungen im ganzen Land. Das Tageblatt hatte zeitweise bis zu 50 Lokalkorrespondenten, die vor allem im Süden und Zentrum unterwegs waren, aber auch den Osten und den Norden Luxemburgs teilweise abdeckten. Das Wort war in fast allen Gemeinden präsent, selbst in den kleinsten.

Die Korrespondenten waren meist männliche Beamten und Lehrer, die einigermaßen schreiben konnten, später auch Schüler/innen und Student/innen. Sie waren in ihrer lokalen Gemeinschaft gut vernetzt und fungierten als Bindeglied zwischen Vereinen, Lokalpolitikern und der Zeitungsredaktion. Ihre Mission verschaffte ihnen Anerkennung und einen gewissen Status in der Dorfgemeinschaft. Nach und nach sind sie „weggestorben“, der Nachwuchs blieb wohl vorwiegend aus sozialstrukturellen Gründen aus. Diese Entwicklung setzte schon vor 30 Jahren ein. Inzwischen arbeiten Wort und Tageblatt nur noch mit wenigen Lokalkorrespondent/innen, die meisten regionalen Außenstellen, die sie zusätzlich zu ihrer Hauptredaktion in den vier Wahlbezirken betrieben, wurden geschlossen. Das Wort verfügt immerhin noch über Büros in Esch/Alzette und Grevenmacher und betreibt mit mäßigem Erfolg die bürgerjournalistische Online-Plattform My Wort.

Um den sukzessiven Wegfall der Korrespondenten zu kompensieren, stellten die Tageszeitungen in den 1980-er- und 1990-er Jahren zusätzliche Lokalredakteur/innen ein. Sie sollten vor allem die Gemeinderäte abdecken, die vorwiegend tagsüber stattfinden, aber auch über Baustellen, defekte Straßen, schwere Autounfälle und Hausbrände berichten. Artikel über Menschen, die sich von der Justiz oder den Behörden im Stich gelassen fühlten, fielen genauso in ihren Aufgabenbereich wie lokalpolitische Skandale, Korruption und Vetternwirtschaft. Bisweilen konnte die Art und Intensität der Berichterstattung sogar Kommunalwahlen entscheiden. Häufig waren die localiers Quereinsteiger aus anderen Berufen, die ihre Qualitäten als Korrespondent um Terrain unter Beweis gestellt hatten und bereits gut vernetzt waren. In der Lokalredaktion wurde ihnen dann eine journalistische Grundausbildung zuteil. Manche wechselten danach in das Politik-, Kultur- oder Wirtschaftsressort; andere blieben im Lokalen, wo sie ihr „Handwerk“ an Berufsanfänger weitervermittelten.

Empathie Dieser „klassische“ journalistische Werdegang existiert inzwischen kaum noch. Jungredakteure sind heute nicht mehr am Lokalgeschehen interessiert. Die meisten haben eine akademische Ausbildung, einige von ihnen im Journalismus und/oder in Kommunikation, sie fühlen sich zu Höherem berufen. „Viele junge Leute wollen gleich in die Innenpolitik und am liebsten sofort ‚investigativ‘ arbeiten“, moniert Roland Arens, Chefredakteur des Luxemburger Wort. Dabei sei die Lokalrubrik eine der wichtigsten Redaktionen, die Ansprüche seien genauso hoch wie in anderen Ressorts. Eine wesentliche Voraussetzung, um im Lokalen zu bestehen, sei Empathie, sagt Arens. Lokaljournalist/innen stünden im direkten Austausch mit den Leser/innen und seien deshalb unerlässlich für die Leser-Blatt-Bindung. Der frühere Tageblatt-Lokalchef Robert Schneider weist darauf hin, dass die Informationen im lokalen Bereich auch heute noch häufig nicht im Internet zu finden sind. „Der Journalist muss auf die Straße und mit den Leuten reden, er muss seine Informationen selber sammeln.“

Das Wort verfolgt – genau wie das Tageblatt – seit einigen Jahren einen neuen Ansatz im Lokalen. Der Anspruch auf Vollständigkeit ist einer selektiven Berichterstattung gewichen. In Gemeinderatssitzungen gehen Journalist/innen fast nur noch, wenn ein größeres Projekt vorgestellt wird oder die Tagesordnung eine Kontroverse verspricht. Die Chronistenpflicht, die lange Zeit die Lokalseiten dominiert hat, spielt kaum noch eine Rolle. Daneben wird der Akzent auf Reportagen und Interviews gelegt, bei denen Menschen im Mittelpunkt stehen, die etwas Außerordentliches geleistet haben oder sich für eine gute Sache einsetzen. Manchmal auch, wenn ihnen ein schwerer Schicksalsschlag widerfahren ist.

Das Wort hatte 2016 eine Lesewert-Studie in Auftrag gegeben, bei der herauskam, dass lokale Reportagen mit nationaler Tragweite zu den am meisten gelesenen Artikeln in der Zeitung gehören. Weil die Verlagshäuser auch kommerzielle Unternehmen sind, die gewinnbringend wirtschaften wollen, richten sie ihre Berichterstattung stärker an den Themen aus, die sich gut verkaufen. Seit die Reichweite von Artikeln digital gemessen werden kann, hat sich dieser Trend noch verstärkt.

Einer der Hauptverantwortlichen für diesen Wandel war Jean-Lou Siweck. Von 2013 bis 2017 war er Chefredakteur vom Wort, von 2018 bis 2021 Ko-Chefredakteur des Tageblatt und Generaldirektor des Verlagshauses Editpress. Seit zehn Monaten ist er Direktor von Radio 100,7. Lokaljournalismus, wie er früher betrieben wurde, sei „furchtbar teuer“, sagt er im Gespräch mit dem Land. Da die Tageszeitungen wegen gesunkener Werbeeinnahmen und der Neuausrichtung der Pressehilfe weniger finanzielle Mittel zur Verfügung haben, sei das heute nicht mehr zu bezahlen. Die Chronistenpflicht interessiere nur die Einwohner einer spezifischen Gemeinde oder Region, nicht aber ein breites Publikum. Nicht zuletzt sei es kein journalistisches Hochgefühl, stundenlang in einer Gemeinderatssitzung zu hocken, um danach eine Zusammenfassung zu schreiben, meint Siweck, der selbst nie als Lokalredakteur gearbeitet hat.

Mikrolokal Mit dem Wandel vom Print zum Digitalen hat sich der journalistische Anspruch im postmodernen oder „postideologischen“ Zeitalter verändert. Aus den einstigen „Parteiblättern“ sind Tageszeitungen geworden, die möglichst objektiv und rein faktenbasiert berichten wollen. Politische Meinungen sollen nur noch in Kommentaren und Leitartikeln zum Ausdruck gebracht werden. Die Tendenz spiegelt sich auch in der lokalen Berichterstattung wider. Hat das Tageblatt bis vor zehn, 15 Jahren mindestens noch versucht, sämtliche Generalversammlungen der Lokalsektionen von OGBL, LSAP und Foyer de la Femme abzudecken, während das Wort vor allem bei LCGB, CSV und Fraen a Mammen präsent war, ist davon heute in den Zeitungen kaum noch etwas zu lesen.

Alvin Sold bedauert das Verschwinden des Mikrolokalen in den Zeitungen, das einen wichtigen Beitrag zum sozialen Zusammenhalt geleistet habe. Lokalnachrichten seien stets von jedem überprüfbar gewesen, weil sie das Leben der Menschen direkt betroffen hätten, erklärt Sold, der seine publizistische Karriere als Lokalreporter beim Le Républicain Lorrain begann. Deshalb habe der Chronist sehr exakt arbeiten müssen, Fehler seien den Leser/innen gleich aufgefallen. Diese Pflicht zur Genauigkeit und die unmittelbare Überprüfbarkeit der Lokalnachrichten hätten viel zur Glaubwürdigkeit der Zeitungen insgesamt beigetragen und auch auf andere Ressorts ausgestrahlt: „Wenn der Leser erkannte, dass die Lokalberichterstattung korrekt war, konnte er davon ausgehen, dass das auch für den Rest der Zeitung galt“, meint Alvin Sold.

Jean-Lou Siweck weist seinerseits darauf hin, dass Gemeinderatsberichte nicht selten von Gemeindesekretären und manchmal auch von Gemeinderatsmitgliedern selbst verfasst wurden, was nicht unbedingt von journalistischer Objektivität zeugte. Alvin Sold entgegnet, dass früher in lokalpolitischen Berichten Objektivität nie gefordert gewesen sei; es habe gereicht, dass die Fakten stimmten. Um sich eine Meinung zu bilden, hätten die Menschen eben zwei oder drei politische Zeitungen gelesen. Von unabhängiger oder objektiver Berichterstattung hält Sold nicht viel. Eher handle es sich um „versteckte Pseudoneutralität“.

Der Wandel von einer parteipolitischen hin zu einer in meinungsbildenden Fragen eher beliebig gewordenen Tagespresse ist jedoch kaum noch rückgängig zu machen. Der Versuch des früheren Saint-Paul-Verwaltungsratspräsidenten Luc Frieden, das Wort wieder auf CSV-Kurs zu bringen, ist 2018 gescheitert. Nach der Übernahme des Verlagshauses durch den multinationalen Konzern Mediahuis dürfte das noch schwieriger geworden sein. Auch das Tageblatt hat sich dem Trend angepasst und ist seit einigen Jahren um Meinungsvielfalt und Neutralität bemüht. In ihrer politischen Ausrichtung unterscheiden sich beide Blätter nur noch geringfügig voneinander.

Neben dem Verschwinden des politischen Meinungsjournalismus könnten für das lokalpolitische Geschehen insbesondere der Verzicht auf Vollständigkeit und die Selektivität bei den Themen weitreichende Folgen haben. Die beiden großen Tageszeitungen decken nur noch einen Bruchteil der Gemeinderatssitzungen ab. Das Tageblatt konzentriert sich auf die großen Südgemeinden, die Stadt Luxemburg und seit einiger Zeit auf die neue Proporzgemeinde Bissen, weil Google dort ein Datenzentrum bauen will. Das Wort verfolgt fast nur noch Sitzungen, bei denen die Tagesordnung mindestens einen Punkt enthält, der mehr Leser interessieren könnte als nur die, die in der Gemeinde wohnen. Und selbst dann bestehe oft keine Eile, man nehme sich lieber die Zeit, zu diesem Thema zu recherchieren und dem Leser Hintergrundinformationen zu liefern, sagt Roland Arens dem Land. Die Zeiten, in denen Wort und Tageblatt miteinander um lokalpolitische Scoops rangen, sind längst vorbei.

Demokratiedefizit Die Selektivität hat jedoch dazu geführt, dass die Tagespresse ihrer Informationspflicht, die jahrzehntelang ihre Existenzgrundlage war, nicht mehr nachkommen kann. Auf lokalpolitischer Ebene kann sie ihre Aufgabe als demokratisches Kontrollorgan nicht mehr erfüllen. Syvicol-Präsident Emile Eicher (CSV) beklagt, dass viele kleinere Gemeinden ihre Botschaften nicht mehr angemessen herüberbringen könnten. Journalisten kämen nur noch in kleinere Gemeinden, wenn etwa eine Schlägerei im Gemeinderat ausbricht, scherzt Eicher. Oppositionspolitiker, auch in Gemeinden mit mehr Einwohnern, sehen nicht ein, wieso sie noch große politische Ansprachen im Gemeinderat halten sollen, wenn die Öffentlichkeit eh nicht mehr davon erfährt. Manche Kommunen haben deshalb ihren Gemengebuet weiter ausgeschmückt, streamen ihre Sitzungen im Internet oder im eigenen TV-Kanal oder informieren ihre Bürger/innen über Facebook und Instagram. Allerdings fehlten bei diesem Angebot die journalistische Einordnung und die Hintergrundinformationen, bemängelt Gilles Siebenaler, ehemaliger Lokalchef beim Wort und inzwischen Chef vom Dienst beim Online-Magazin Reporter. Wie der Staat, der mehr als 50 Kommunikationsbeauftragte beschäftigt, haben vor allem größere Gemeinden sich mittlerweile einen eigenen Dienst für Öffentlichkeitsarbeit geleistet. Alleine die Stadt Esch beschäftigt über ein halbes Dutzend PR-Leute, die Hälfte von ihnen sind frühere Tageblatt- und Wort-Journalist/innen. Städte wie Luxemburg, Esch/Alzette und die Nordstad-Gemeinden geben eigene Magazine heraus und veröffentlichen ästhetisch anspruchsvolle Werbefotos von ihren Einweihungen und anderen Veranstaltungen auf Facebook und Instagram. Problematisch daran ist vor allem die sehr einseitige Darstellung: Mitarbeiter der Gemeindeverwaltung machen politische Propaganda für ihren Bürgermeister und seine Schöffen, während die Opposition nur am Rande vorkommt. Eine kritische öffentliche Auseinandersetzung findet nicht statt.

Dieses Demokratiedefizits sind sich die Verlagshäuser bewusst. Zufriedenstellend ist die aktuelle Situation für keinen. Das Leserpotenzial für Lokaljournalismus sei weiterhin groß, zeigt sich Robert Schneider überzeugt, nur das Angebot fehle. Dass Social Media die Lücke füllen könne, wie manche Medienschaffenden behaupten, daran glaubt Schneider nicht. Was dort betrieben werde, sei eher „Privatjournalismus“: Leute, die sich selber in den Mittelpunkt stellen, indem sie Fotos von ihrem Essen und ihren Kleidern teilen, und der ganzen Welt von ihren Gefühlen erzählen. Der Präsident des Presserats, Roger Infalt, bis 2016 ebenfalls Lokalchef beim Tageblatt, würde sich wünschen, dass die Zeitungen mehr in den Lokalteil statt in Auslandsberichterstattung investieren, die schließlich überall zu finden sei. Jean-Lou Siweck wirft die Frage auf, ob reine Lokalzeitungen vielleicht in digitaler Form rentabel sein könnten, weil damit keine Druckkosten verbunden sind. Das neue Pressegesetz sehe jedenfalls eine zeitlich begrenzte Unterstützung für Start-Up-Medien ab zwei Journalist/innen vor. Ob ein solches Produkt wachsen und sich dauerhaft etablieren könne, stehe allerdings auf einem anderen Blatt.

Abgeschrieben haben Wort und Tageblatt den Lokaljournalismus aber noch nicht. Auch wenn viele Storys – insbesondere aus dem Bereich Faits divers – heute fast ausschließlich bei RTL und im L᾽Essentiel laufen, und Maison Moderne sich mit seinen Publikationen eine auf Expats und Finanzplatz zugeschnittene „lokale“ Berichterstattung erschlossen hat, wollen sie weiterhin auf gute Lokalgeschichten setzen. Das Wort, das derzeit nur noch über rund ein Dutzend Lokaljournalist/innen verfügt, wolle weiter in diesem Bereich rekrutieren und seine Lokalredaktion wieder ausbauen, bekundet Roland Arens. Geleitet wird das Lokalressort heute von Diane Lecorsais und Sophie Hermes. Auch das Tageblatt, das 2019 die Ressorts zugunsten einer auf die Chefredaktion ausgerichteten zentralisierten Organisationsstruktur abgeschafft und an seine Journalisten Beats genannte Themenschwerpunkte verteilt hatte, veranstaltet seit Kurzem wieder wöchentliche Redaktionskonferenzen mit seinen sechs bis sieben Lokalredakteuren und sucht laut Chefredakteur Dhiraj Sabharwal noch Verstärkung: Gerne dürfe es auch ein Quereinsteiger sein, der nicht „mega ausgebildet“ sei. Das hat aber wohl vor allem mit den anstehenden Gemeindewahlen zu tun. In diesen Zeiten steigt das Interesse der Leser/innen am Lokalen und damit auch der Arbeitsaufwand in den Redaktionen traditionell erheblich.

Luc Laboulle
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