Vom Zufall

Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt

d'Lëtzebuerger Land vom 08.04.2010

Wenn wir vom Zufall reden, so sollten einige Voraussetzungen erfüllt sein. Er kann nur in einer Welt des Zusammenhängenden, der Systematik sozusagen als Schwarzer Peter auftreten. In einer total ungeordneten, einer chaotischen Welt ohne Zentrum wird er nicht wahrgenommen.

Die Notwendigkeit ist eigentlich nicht sein Gegenprinzip, denn auch jeder Zufall entwickelt sich notwendig aus verschiedenen Voraussetzungen. Er ist nicht die Ausnahme im Bereich des Notwendigen, sondern der unerwartete Fremde, der aber nach den gleichen Regeln funktioniert wie das Notwendige. Sein Auftreten, war eben nicht bedacht worden, liegt aber durchaus im Bereich des Möglichen. Das Plötzliche und Wirksame seines unerwarteten Auftritts verleiht ihm etwas vom Wunderbaren. Und der, den er so unvorbereitet trifft, hat sogar das Recht, sich irgendwie ausgezeichnet zu fühlen.

Hier kommt das subjektive oder psychologische Element ins Spiel. Wenn wir schreien: „So ein Zufall!“, dann drücken wir dadurch nur unser Erstaunen aus über das Auftauchen von Umständen, die wir nicht bedacht und also keineswegs erwartet hatten, die sich aber durchaus im Rahmen der Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten bewegen.

Mythos, Religion, Philosophie und Wissenschaft waren immer darum bemüht – und das ist nicht die geringste ihrer Funktionen – die den Menschen im Tiefsten beunruhigende Erfahrung des Zufalls zu bannen. Als Zufallszähmung könnte man diese Aufgabe auf den Begriff bringen.

Der Zufall hat es nun einmal an sich, auch wenn er sich nach überstandenem Überraschungseffekt erklären lässt, dass er unsere Weltsicht ankratzt und das Weltvertrauen erschüttert. Er stellt unsere Sinnsysteme so lange in Frage als die notwendige, weil so beruhigende kausale Klärung ausbleibt. Hinter jedem Auftritt des Zufalls öffnet sich der Abgrund tiefster Weltkontingenz. Wir ahnen, ohne dass diese Ahnung immer zu einer klaren Einsicht werden muss: Alles, was existiert, könnte genauso gut nicht existieren. Unser Leben und unsere Lebenswelt sind im Grunde Produkte eines Spiels und nicht einer planenden Absicht.

Hiermit tut sich manchem der Urgrund des Nichts auf, beginnt sein Glaube an eine planende Macht Gottes zu wanken. Einer der charakteristischsten Züge unseres Gottesbildes ist gerade diese planende Voraussicht, die wir Gott nach unserem eigenen Wesen unterstellen. Er ist der Gegner oder mindestens der Manipulator des Zufalls. Trauen wir ihm, wird der Zufall uns am Ende nichts anhaben können. Der Sinn überstrahlt mit seinen Ordnungskategorien alle Wursteleien des Zufalls.

Solche „kleinen Götter“ sind die Hel­den in zwei von Dürrenmatts vielleicht bekanntesten Werken: Das Versprechen und Die Physiker. Der Polizeiinspektor Matthäi und der Physiker Möbius sind tragische Opfer des Zufalls Beide sind Einzelgänger, die keine Hilfe von außen beanspruchen, die versuchen, die Welt durch ihre klu­gen Projekte wieder in Ordnung zu bringen. Dass sie beide in ihren prätentiösen Vorhaben durchaus zu Erlöserfiguren werden wollen, die im Alleingang ihre Heldentaten planen und ausführen, lässt es nicht ganz unpassend erscheinen, von ihrer Hybris zu sprechen. Und da wir schon in diesem antiken Umfeld sind: Durch diese Hybris fordern sie die Göttin des Zufalls gerade heraus, die sie am Ende zermalmt. Dass die Helden ihrem hehren Ziel das banale Glück einer eigenen Familie opfern, ist nur konsequent. Sie vertrauen niemandem als sich selbst, isolieren sich somit und liefern sich dem Zufall schutzlos aus.

Matthäi hat der verzweifelten Mutter eines missbrauchten und ermordeten Mädchens versprochen, dass er den Mörder ihres Kindes festnehmen wird. Diesem Versprechen opfert er alles, auch die Liebe zu einer Frau und deren Kind, indem er die Kleine ohne das Wissen der Mutter als Köder für den Mörder „ausstellt“, von dem er nur weiß, dass er vermutlich an einer bestimmten Stelle zu einer bestimmten Zeit mit dem Wagen vorbeifährt. Im Dienste der Gerechtigkeit und seines Verssprechens spielt der kleine Gott Matthäi mit dem Leben dieses Kindes. Der wirklich dumme Zufall bewirkt dann, dass der Mörder am Ende auf dem Weg zum Köder tödlich verunglückt. Somit wird Matthäis genialer Fischzug erfolglos, und an diesem Misserfolg zerbricht er.

Diesen Zufall könnte man in der Tat als die Aktion einer Richtergottheit deuten: Der Mörder stirbt beim Autounfall, der Inspektor büßt seine Hybris in der Verzweiflung seines Verfalls im Alkohol. Der Zufall wirkt also im Krimi fast moralistisch.

Dass der Physiker Möbius, der im Alleingang die Welt vor den schrecklichen Folgen seiner physikalischen Entdeckungen schützen will, diese ausgerechnet einer verrückten Irrenärztin mit Weltherrschaftsansprüchen in die Hände spielt, wird von Dürrenmatt selbst in einem seiner 21 Punkte zum Stück angesprochen und zugleich als verhängnisvoller Irrtum des Möchtegern-Welterlösers ausgelegt: Was alle angeht, können nur alle lösen.

Einmal lässt der Dramatiker die Göttin der Gerechtigkeit oder der Rache als Hauptgestalt eines Stückes auftreten: Claire Zachanassian, die alte Dame, welche ihre Heimatstadt besucht, um sich an ihrem treulosen Liebhaber von einst zu rächen, aber auch um die Heuchelei ihrer korrumpierbaren Bürger und Bürgerinnen zu entlarven. Die unermesslich reiche Frau bietet der Gemeinschaft von Güllen eine Milliarde für den Leichnam ihres einstigen Liebhabers Alfred Ill. Die Komödie zeigt nun unerbittlich von Szene zu Szene, wie das vermeintlich unabwendbare Schicksal Ills nur das Resultat der Geld- und Glücksgier seiner Mitbürger und Mitbürgerinnen ist. Der Zufall in diesem Stück liegt vielleicht in der Einsicht Ills in die eigene Schuld und damit die Annahme seiner Ermordung durch die Gemeinschaft als gerechte Buße für seine Untat.

Dass der Pastorensohn Friedrich Dürrenmatt am Anfang seiner Schriftstellerlaufbahn noch an Gott glaubt, wird unter anderem durch den ersten Schluss der berühmten Erzählung Der Tunnel ersichtlich: „Gott ließ uns fallen und so stürzen wir denn auf ihn zu.“ Man könnte das Dasein als eine Summe unendlicher von Gott gelenkter Zufälle deuten und das Aussetzen dieser Zufälle als ein Fallenlassen Gottes in den Abgrund der Nichtexistenz. Und dann klingt trostreich der Schluss von Rilkes bekann­tem Gedicht Herbst an: „Und doch ist einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“ In der Werkausgabe von 1980 hat der Autor diesen tröstlichen Schluss nihilistisch aufgehoben.

Ob Zerfall und Untergang sich dem Zufall oder der Notwendigkeit verdanken, ist eigentlich nur für den wichtig, der meint, beide aufhalten zu können. Direkt sympathisch mutet unter den Vorzeichen des Zerfalls des römischen Weltreiches Dürrenmatts Romulus der Große, der das römische Imperium lieber ausverkauft und dem Feinde kampflos überlässt, statt sinnlose menschliche Opfer für Staat oder Nation zu verlangen…

Der Zufall kann in Das Versprechen und Die Physiker als christlicher Hinweis verstanden werden auf die Hinfälligkeit des Menschen, der in seinem Hochmut Gott spielen will und am Ende vor dem schaurigen Scherbenhaufen seiner Projekte steht, die der Zufall zermalmt.

Das Spätwerk des Autors hat den Schritt zum Absurden vollzogen. Schon ein Titel wie Durcheinandertal oder die Bedeutung des Labyrinths in seinen Werken belegen dies. Sinnlos agieren hier die menschlichen Leidenschaften mit dem einzigen Ziel der gegenseitigen Zerstörung.

Jacques Wirion
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