Regierung und Parlament machen weiter, als ob nichts geschehen wäre: Die Wirtschafts- und Finanzkrise ist auch eine Krise der Demokratie

Der Sommer der Zombies

d'Lëtzebuerger Land vom 02.08.2013

Weil Luxemburg immer die ärmste und rückständigste Provinz der Spanischen Niederlande war, die bei ihrer Unabhängigkeit auch noch ihre Metropole verlor, ahmt es die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der Nachbarländer nur mit einer gewissen Verzögerung nach, welche vielleicht der Dauer der einen oder anderen Postkutschenfahrt nach Brüssel oder gar Paris entspricht. So retteten Ende 2008 die Regierungen des inzwischen in Benelux umgetauften Landstrichs mit Milliardenbeträgen die Banken Dexia, Fortis und ABN Amro und prompt kam es im Sommer 2010 zu Regierungskrisen über die Frage, wessen Wählerbasis für die große Krisen zahlen soll. In Belgien und den Niederlanden wurden Neuwahlen abgehalten, unter einem ganz anderen Vorwand, wie der Zuteilung des Wahlbezirks Brüssel-Halle-­Vilvoorde oder dem niederländischen Militäreinsatz in Afghanistan. Im noch stärker dem Zunftwesen verhafteten Luxemburg platzte stattdessen die Tripartite. Die Neuwahlen finden mit der erwähnten Verzögerung jetzt erst statt, unter einem ganz anderen Vorwand, dem hysterisch gewordenen Geheimdienst. Wahlkampfthemen sind, wie zuvor in Belgien und den Niederlanden, das Staatsdefizit, Steuererhöhungen, Kürzungen der Sozialleistungen und Einsparungen im öffentlichen Dienst. Aber die nun schon fünf Jahre alte Krise ist nicht nur eine Finanz- und Wirtschaftskrise, sie ist auch eine Krise der parlamentarischen Demokratie. Deshalb geistert seit 14 Tagen ein Heer politisch Untoter durch das Land: Minister, Abgeordnete, von denen niemand so richtig weiß, ob sie noch Minister und Abgeordnete sind, weil sie am 10. Juli politisch starben und anderntags gleich wieder, kalt und blass, ihren Gräbern entstiegen. Damals waren nach einer siebenstündigen parlamentarischen Debatte Premier Jean-Claude Juncker und seine Regierung gestürzt, das Parlament hatte seine Legislatur aufgehoben, und seither weigern sich alle, bloß demissionär oder geschäftsführend zu sein, sondern wollen weiterregieren wie bisher. Zwei Tage nach dem Sturz der Regierung besuchte beispielsweise die bisherige Hochschulministerin Martine Hansen (CSV) das Hochschulinforma­tionszentrum Cedies, eine Woche später empfing sie den OGBL und erklärte ihm, dass sie „weiterreichende Änderungen an den Studienbörsen“ vornehmen wolle. Am selben Tag besuchte der bisherige Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) die Fluggesellschaft Luxembourg Air Res­cue. Am 19. Juli reiste der bisherige Familienminister Marc Spautz (CSV) in die Ferienzentren des Foyer de la femme in Lombard­sjide und des Roten Kreuzes in La Panne. Der bisherige Wirtschaftsminister Etienne Schneider stellte am 22. Juli eine Preistabelle für Strom aus erneuerbaren Energiequellen vor, und der bisherige Finanzminister Luc Frieden (CSV) einen Tag später eine Taskforce für die Informations- und Kommunikationsbranche. Zusammen mit dem bisherigen delegierten Nachhaltigkeitsminister Marco Schank (CSV) besuchte er am 25. Juli die Naturverwaltung, während der bisherige Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) am Montag dieser Woche der Superdreckskëscht und dem Restaurant der Ligue HMC seine Aufwartung machte. Emsig überspielen die bisherigen Minister, dass sie politisch keine mehr sind. Seit dem Sturz der Regierung kam das Kabinett bereits dreimal zusammen. Nach der Sitzung am 11. Juli erklärte Etienne Schneider, der Mann, der die Fenster im Staat weit aufreißen will, im Oktober seien zwar Wahlen, aber „bis dahin wird alles beim Alten blieben. Wir werden nicht abgesetzt oder uns absetzen lassen.“ Zwei Wochen, nachdem die Regierung über ihren Geheimdienst stürzte, verabschiedete sie vergangenen Freitag trotzig zwei Entwürfe von großherzoglichen Reglementen zur Regelung von Geheimdienstakten. Das Luxemburger Wort konnte am Dienstag stolz melden: „Die Regierung hat das Kinderbetreuungsangebot massiv erweitert, als nächstes will sie die Qualität verbessern.“ Demonstrativ planen die bisherigen Miniser weit in die Zukunft, so als ob auch die Wahlen nichts daran ändern könnten, dass sie noch Jahre lang Minister blieben. Auch das Parlament auf dem Krautmarkt irrt wie der Fliegende Holländer umher. Seit dem Bruch der parlamentarischen Mehrheit und dem politischen Ende der Legislaturpe­riode tagten am 11. Juli der Erziehungs- und der Hochschulausschuss, der Familienausschuss kam einen Tag später zusammen, danach der außenpolitische Ausschuss, und der Haushaltskontrollausschuss debattierte einen Bericht des Rechnungshofs. Der Nachhaltigkeitsausschuss tagte, die Delegation des interparlamentarischen Beneluxrats und der institutionelle Ausschuss. Schließlich beugte sich der Finanz- und der Haushaltskontrollausschuss am 19. Juli über die Staatsfinanzen. Für September sind bereits Sitzungen des ­Agrar-, des außenpolitischen, des Benelux- und des Kulturausschusses anberaumt. Vier Tage vor den Wahlen soll eigentlich noch die interparlamentarische Pfadfindergruppe zusammenkommen. Seit dem politischen Ende der Regierung und des Parlaments stellten Abgeordnete anderthalb Dutzend parlamentarische Anfragen an die gestürzte Regierung über die Berufsorientierung, die Kirchberger Coque, die Diplome der Sportlehreranwärter, den Lärm von Autobahnbrücken, den Notfallplan für Hitzewellen, den Kampf gegen den Tabak, die Sicherheitsarchitektur in der Großregion und desgleichen mehr. Nach einer Audienz beim Großherzog hatte der am Vortag gestürzte Premier Jean-Claude Juncker erklärt, weshalb er nach seinem Sturz gleich wieder aufstand: „Wir leben in einer Zeit, die nicht zu den ruhigsten gehört. In den Euro-Gewässern ist in den letzten Tagen allerlei Wellenschlag zu bemerken. Es wäre ganz riskant, das Land in eine Lage zu führen, wo eine richtige, aktive Regierung erst Ende November, Anfang Dezember im Amt wäre. Es ist eine gefährliche Zeit, in der wir leben.“ Ob sich diese Gefahren nur dadurch abwehren lassen, dass bisherige Minister Ferienlager an der belgischen Küste besuchen und bisherige Abgeordnete sich nach dem Lärm von Autobahnbrücken erkundigen, ließ Juncker offen. Aber er wiederholte auch bloß die Argumentation, mit der in den vergangenen Jahren in mehreren Ländern der Euro-Zone Institutionen der parlamentarischen Demokratie schrittweise entmachtet wurden, damit das Regieren in „gefährlichen Zeiten“ Experten und Technokraten überantwortet werden konnte, die dem Zinsfuß der Finanzmärkte gehorchen und Politik und Wahlen als „Populismus“ abtun. Nach ihrem Sturz am 10. Juli beschlossen die bis dahin demokratisch legitimierten CSV- und LSAP-Minister in ihrer Kabinettsitzung vom 11. Juli, als Technokraten weiterzuregieren. Denn Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus sind in ungefährlichen Zeiten ja ganz nette Rituale, aber was in Zeiten von Europäischen Semestern, Six-packs und Troikas zählt, ist eine „richtige, aktive“ Exekutive. Dass die bisherige Regierung für den Großherzog ein wie auch immer geartetes Gutachten des Staatsrats bestellte (s. S. 10) und sich dann zusammen mit dem bisherigen Parlament darüber hinwegsetzte, weil es nicht zu den gewünschten Schlussfolgerungen kam, erinnert an die Praxis anderer Staaten, Volksbefragungen über die EU-Politik so lange zu wiederholen, bis das gewünschte Ergebnis herauskommt. Weil die Regierung beschloss, weiterzuregieren, als ob nichts wäre, ist das für das Parlament Grund genug, das Gleiche zu tun. Der Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für die Institutio­nen und die Verfassungsrevision, Paul Henri-Meyers (CSV), meinte nach einer Ausschusssitzung am 18. Juli: „Der Institutionsausschuss hält wegen des Gleichgewichts der Institutionen darauf, dass auch die Kammer voll handlungsfähig bleibt bis zum Oktober, weil das Gleiche auch für die Regierung gilt. Die Regierung hat das damit begründet, dass zu jedem Augenblick, auch in Europa, in der Situation, in der wir heute leben, Probleme auftreten können, wo die Regierung rasch handeln muss. Dann sind wir der Meinung, dass auch die Institution, welche die Regierung kontrolliert, die gleichen Vollmachten behalten muss. Da kann die nun nicht aufgelöst werden.“ In seinem Gutachten über eine verzögerte Auflösung des Parlaments gab der Staatsrat zu bedenken: „En cas de crise internationale et s’il y a urgence, même un Gouvernement démissionnaire pourrait valablement soumettre au Grand-Duc des règlements en toute matière, même dérogatoires à des dispositions légales existantes, qui se fonde­raient sur l’article 32, paragraphe 4 de la Constitution. Enfin, il doit être permis de soulever la question de savoir comment une Chambre des députés serait en mesure de dégager une majorité pour soutenir l’action du Gouvernement.“ Damit warf er eine Frage auf, für die er sich sonst nie zuständig fühlt: Ob alles, was zur Not rechtens sein kann, auch politisch zulässig ist, ob das nicht zwei verschiedene, aber gleichwertige Sphären sind.

Romain Hilgert
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