Zeitgenössische Kunst

Im hohen Norden

d'Lëtzebuerger Land vom 11.12.2020

Der Begriff vom „hohen Norden“ lässt an bizarre Eislandschaften denken, an unwirtliche Temperaturen und vielleicht auch an hyggelige Wohnkultur – Dinge also, die man mit dem Luxemburger Norden eher weniger assoziiert. Doch gerade hier, in Clervaux, der Stadt der Bilder, liegt der Ausgangspunkt für eine imaginäre Reise in die höheren Breitengrade. Die aktuelle Ausstellungssaison widmet sich unter dem Titel Nord Part I dem Verhältnis des Menschen zu Landschaften des Nordens.

Auf dem Marktplatz werden Besucher/innen mit Paolo Verzones Serie Arctic Zero bereits an den nördlichsten Punkt der Reise geschickt. Vom Schlossfelsen hängen großformatige Aufnahmen aus Svalbard, übersetzt: kalte Küste, in Spitzbergen. Bis in die 60er Jahre war das Dorf im arktischen Archipel ein Bergbaudorf. Trotz der Rohstoffvorkommen ist die Landschaft so unwirtlich, dass bisher niemand sie beansprucht hat; zwar ist Spitzbergen mit Norwegen verbunden, jedoch als neutrale, entmilitarisierte Zone ausgewiesen. Seit den 1990ern zieht Svalbard eine große Zahl an Wissenschaftlern an und hat sich laut Verzone zum „größten Labor der modernen Arktisforschung“ entwickelt, in dem bei durchschnittlich minus sechs Grad geforscht wird. Es gelingt Verzone, den Formenschatz der vermeintlich kargen Landschaft zu verdeutlichen. Insbesondere aber lenkt er den Blick auf den Reichtum des wissenschaftlichen und kulturellen Lebens unter nicht sonderlich einladenden Bedingungen. Die Fotografien zeigen einen Forscher, der von einem Felsvorsprung über das bläulich-kalte Wasser blickt, oder eine rote Hütte gegen den Schnee, in der ein Wetterballon vorbereitet wird. Eine Musikkapelle ist bei einer Outdoor-Performance zu sehen. Gerade in den Nachtaufnahmen verdeutlicht der Kontrast aus kaltem Umgebungslicht beziehungsweise grünlichem Polarlicht und warmer Beleuchtung den Kontrast zwischen der lebensfeindlichen Umgebung und dem Schutz der Behausung.

Einen wissenschaftlich relevaten Ausgangspunkt nehmen auch die Arbeiten von Evgenia Arbugaeva mit dem Schmelzen des Permafrosts in Nordost-Sibirien. Hier hat die Fotografin einen Nebeneffekt dieser besorgniserregenden Entwicklung dokumentiert. Nicht nur geben die erwärmten Permafrostböden zunehmende Mengen gigantischer CO2-Vorkommen ab, die in ihnen gespeichert sind, sie geben auch Spuren aus über 4 000 Jahren Vergangenheit frei. Die Mammoth Hunters folgen dem Geruch von Moschus und Verwesung, um konservierte Mammutkadaver freizulegen, die neben ihrem naturhistorischen Wert insbesondere aufgrund ihrer Stoßzähne begehrt sind. Diese werden für oftmals zehntausende Euro nach China verkauft, wo sie als Ersatz für das seit 2017 verbotene Elfenbein herhalten und kunstvoll weiterverarbeitet werden, um schließlich für teures Geld auf dem Markt zu landen. Stoßzähne, die aus lehmigem Boden herausragen, Hobbit-artige Lehmhütten der Jäger, ein mumifiziertes Mammut in einer Eiskristall-Höhle – Arbugaevas Bilder stilisieren die Kadaversammler auf fantastische Weise zu heroischen Jägern.

Mit Zeeland wählt der niederländische Fotograf Jeroen Hofman einen landschaftlichen Grenzverlauf, in dem die Naturgewalt auf eine Landschaft trifft, die der Mensch dem Meer abgerungen. Der erhöhte Blick des Fotografen gleitet über grüne Marschlandschaften hin zum Meer und endet am Horizont in der Bildmitte. Es wirkt somit, als bestünden die Fotografien nur aus Mittel- und Hintergrund, obgleich in Kameranähe teils Infrastruktur zu erkennen ist, wie Windkraftanlagen oder Solarpanele. Zwar handelt es sich hier nicht um Eiswüsten oder Permafrost, jedoch wirken die Landschaften in ihrer Weite durchaus unwirtlich.

An den Arkaden unterhalb des Schlosses wird die Reise in den Norden schließlich selbstreferentiell. Der Luxemburger Fotograf Christian Aschman zeigt in seiner Serie État des Lieux, États d’un Lieu; Clervaux Lokalkolorit aus der Ardennengemeinde. Motive wie Scheunen und Straßenbäume heben die Ländlichkeit des Ortes hervor, der Aschman mit Straßenschildern, Telefonzellen und Briefkästen auch die urbane Infrastruktur entgegenhält. Unverkennbar ist Aschmans unaufgeregter Stil, statt weitwinkliger Aufnahmen sind die Motive nüchtern und komprimiert eingefangen, sodass sich etwa Teile von Scheunen, Bauernhäuser und Kirchturm kollagenartig überlappen. Menschen sind in Aschmans Fotografien keine zu erkennen, doch zeigen sie Schauplätze menschlichen Wirtschaftens, der Kommunikation und des Wohnens. Wer nach Clervaux fährt, den laden diese Fotografien dazu ein, die Stadt auf poetische Weise visuell zu erfahren. Unter freiem Himmel permanent zugänglich bieten die Ausstellungen der Saison Nord Part I somit alle Möglichkeiten, von Clervaux bis Spitzbergen Nah- und Fernweh zu bekommen.

Mehr Informationen: www.clervauximage.lu

Boris Loder
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