In einer Diskussionsrunde aus Oppositionspolitiker/innen am Sonntag im RTL-Radio mutmaßte der Piraten-Abgeordnete Sven Clement: Bis zu den Europawahlen am 9. Juni mache die Regierung vielleicht noch das eine oder andere Versprechen. Am 11. Juni aber, wenn der Premier seine Erklärung zur Lage der Nation abgeben wird, werde die Katze aus dem Sack gelassen. Dann würden Einschnitte angekündigt.
Vielleicht hat Clement recht. Das Datum für den état de la nation lädt auf jeden Fall zu Unterstellungen ein. Und reich an politischen Initiativen waren die ersten sechs Monate CSV-DP-Regierung nicht. Abgesehen von der Anpassung der Steuertabelle an die Inflation um anderthalb Indextranchen zusätzlich zu den zweieinhalb, die noch die vorige Regierung zum 1. Januar festgelegt hatte, gab es das Heescheverbuet, das beinahe in eine institutionelle Krise geführt hätte, und die Beschlüsse der Logementsreunioun Ende Februar. Sowie diverse Aussagen von CSV-Premier Luc Frieden, die dieser bald dementieren, bald zurücknehmen, bald nachträglich nuancieren musste. Vom Orbán-Versteher bis hin zur „Technologieoffenheit“ inklusive Atomenergie. Nach den Europawahlen kann durchregiert werden. Die nächsten Wahlen sind erst 2028 die zur neuen Kammer.
Kein Wunder, dass am Mittwoch im Parlament bei der Diskussion des Übergangshaushalts 2024 der Linken-Abgeordnete David Wagner im Namen der gesamten Opposition eine Resolution vorlegte, um die Erklärung zur Lage der Nation und die Debatte darüber noch vor den Europawahlen stattfinden zu lassen. Kein Wunder auch deshalb, weil Übergangshaushalt und Mehrjahreshaushalt nur für die ab Mai noch verbleibenden acht Monate geschrieben sind. Der erste richtige wichtigste Gesetzentwurf des Jahres kommt im Oktober. Zu den politischen Akzenten der neuen Regierung im Haushalt konnte am Dienstag auch die parlamentarische Berichterstatterin Diane Adehm (CSV) sich kurz fassen: Da seien die Anpassung der Steuertabelle und die Logementsmesuren.
Weil der Übergangshaushalt im „Europäischen Semester“ verabschiedet wird, liegen ihm dieselben Daten und Schätzungen zugrunde wie dem Stabilitäts- und Wachstumsprogramm (PSC), das CSV-Finanzminister Gilles Roth am Mittwoch vorstellte. Viel Neues zu erzählen gab es nicht. Die EU-Kommission schätzt die Wachstumsaussichten für dieses Jahr mit 1,3 Prozent mehr BIP pessimistischer ein als das Statec mit zwei Prozent, aber das ändert sich vielleicht noch, wenn im zweiten Halbjahr die Europäische Zentralbank die Zinsen senkt, wofür es „Anzeichen“ gebe.
Aber nicht nur wünscht die Opposition im Parlament sich politische Pläne von Regierung und Mehrheit, um sich daran abarbeiten zu können. Regierung und Mehrheit passen auch auf ihre Rhetorik auf. Hatte der Finanzminister Ende Februar in einem Radiointerview noch das gefährliche Wort „Sparmaßnahmen“ in den Mund genommen, sprach er am 6. März in seiner Budgetsried in der Kammer von „neuem Schwung“, „Aufschwung“ und „Aufbruch“. Am Mittwoch war Gilles Roth wieder nüchterner: Die Regierung stehe für eine „verantwortliche Haushaltspolitik“ und für „verantwortliche Ausgaben“.
Er hätte auch weniger streng sein können. Zwei Tage vorher hatte er einem parlamentarischen Ausschuss die Einnahmen und Ausgaben des Zentralstaats bis Ende März präsentiert. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum lagen Erstere um 9,4 Prozent höher, Letztere um 3,3 Prozent höher. Eigentlich sieht das schon nach dem „positiven Schereneffekt“ aus, den Roth ab 2025 erreichen und die Einnahmen schneller wachsen sehen möchte als die Ausgaben. Zwar wird im Rahmen eines Budgets mit provisorischen Zwölfteln tendenziell weniger ausgegeben als mit einem normalen Haushalt. Doch andererseits lasteten auf den Ausgaben 2023 die Solidaritätspakete der Tripartite zur Dämpfung der Inflation.
„Verantwortlich“ haushalten zu wollen, kann sich deshalb übersetzen lassen mit wirtschaftlichen Sachzwängen, denen nachgegeben werden soll. Diane Adehm widmete den persönlichen Teil ihres Haushaltsberichts dem Finanzplatz. „Rund ein Viertel des nationalen Reichtums kommt von dort“ und „immer mehr als 40 Prozent der Steuern“, wie der Rechnungshof gezeigt habe. Prioritär nötig sei, wie Adehm aus Gesprächen mit Lobbyisten schließt, neben „attraktiven Regeln für Fintech und für die Implementierung von künstlicher Intelligenz“ sowie einem „adäquaten Rechtsrahmen für nachhaltige Finanzen, der Luxemburg zum place to be macht“, auch ein „attraktiver Steuerrahmen“ für „Talente“. Dazu gehörten außerdem expat regimes und primes participatives. Bedenken müsse man auch, dass viele Talente ledig sind und in der Steuerklasse 1 hierzulande „der taux moyen weit über dem OECD-Durchschnitt liegt und auch höher als in den Nachbarländern, mit Ausnahme Belgiens“. Erschwinglicher Wohnraum sei ebenfalls ein „Parameter“. Was vermutlich heißen soll, dass nicht jedes Talent in Luxemburg eine teure Wohnung kaufen mag, um sie vielleicht mit Gewinn weiterzuverkaufen. Sondern eine nennenswerte Zahl das Wohnen zur Miete vorzieht, um flexibler zu sein, wenn an einem anderen Standort Talente zu wettbewerbsfähigeren Bedingungen nachgefragt werden.
Ob Steuerausfälle hingenommen werden sollen, um Talenten spezifisch entgegenzukommen, oder ob sie von einer großen Steuerrreform mitprofitieren würden, ergibt am Ende, wie auch immer, Steuerausfälle. Und schon was Gilles Roth bisher für 2025 angekündigt hat – eine weitere Anpassung der Steuertabelle an die Inflation, Verbesserungen in der Klasse 1a sowie eine Senkung der Betriebsbesteuerung um einen Prozentpunkt – scheint im Widerspruch zu stehen zum „positiven Schereneffekt“ durch weniger Ausgaben bei weiterhin hohen Einnahmen.
Die Opposition kam darauf zurück in der Haushaltsdebatte. LSAP-Fraktionspräsidentin Taina Bofferding rechnete Roth vor: „Nur ein halbes Prozent weniger Wirtschaftswachstum verdoppelt das Defizit im Zentralstaat!“ Die Einkommensteuereinnahmen sollen dieses Jahr um 7,7 Prozent zunehmen, aber wie kann das gehen, wenn die Beschäftigung laut Statec vielleicht nur um 1,3 Prozent wächst und die nächste Indextranche erst im vierten Quartal fällig werden soll? Sam Tanson von den Grünen wollte wissen, wo „den Apel fir den Duuscht“ sei, denn die nächste Krise komme bestimmt.
Was für den Finanzminister den schönen Effekt hatte, aus Kreisen links von der CSV Ermahnungen zum Sparen zu hören, wie er sie sich lieber verkneift. Aufgeschlüsselt, wodurch genau die Ausgaben im Zentralstaat dieses Jahr um 7,6 Prozent steigen sollen, während es 2023 noch elf Prozent waren, hat Gilles Roth anscheinend selbst im parlamentarischen Finanzausschuss nicht; jedenfalls laut Taina Bofferding nicht. Am Mittwoch sprach er nur von „kollektiven, ehrlichen Anstrengungen“ der ganzen Regierung zur Senkung der Funktionskosten des Staats. 320 Millionen zum Beispiel würden dadurch gespart, dass Bürogebäude „prioritär gemietet werden statt gekauft“. Einige Investitionen würden zeitlich gestreckt, wie die in die Sebes, oder nach hinten verschoben, wie die Maison Santé et Sports in Belval. In den nächsten Jahren aber will Roth das Ausgabenwachstum auf im Schnitt 4,9 Prozent senken.
Sam Tanson verglich Roths Ausblicke auf Wachstum und positivem Schereneffekt mit Schrödingers Katze. Dem Sinnbild aus der Quantentheorie für ein Teilchen, das mehrere Zustände gleichzeitig haben kann, die sich aber nicht gleichzeitig beobachten lassen. Wie eine Katze, die in einer Kiste steckt und lebendig und tot zugleich ist, und erst wenn jemand die Kiste öffnet und nachschaut, wird klar, ob das Tier lebt oder nicht. Für Tanson ist der ungeklärte Zustand eine Wette auf ein trickle-down, wie Luc Frieden das im Wahlkampf als „andere Politik“ versprochen hatte: Wachstum durch weniger Steuern. Oder wie soll das Wachstum erreicht werden? „Sie gehen all in, ohne zu wissen, welche Karten Sie in der Hand haben“, hielt sie Gilles Roth mit Poker-Jargon vor.
Was vielleicht stimmt, ehe dem état de la nation am 11. Juni Genaueres zu entnehmen sein wird. Bis dahin enthält Roths Übergangshaushalt genug Akzente, die noch von der vorigen Regierung festgelegt wurden. Sodass Sam Tanson die anhaltend hohen Investitionen begrüßen muss, Taina Bofferding die „Kontinuität in der Familienpolitik“. Weil CSV-Fraktionschef Marc Spautz einen „Aktionsplan zur Armutsbekämpfung“ ankündigen konnte, damit nicht der Eindruck aufkam, dieses Luc Frieden im Kammer-Wahlkampf wichtige Thema sei vergessen worden, kam Bofferding nicht umhin, auch das zu begrüßen. Sechs Wochen vor den Europawahlen steckte in der Haushaltsdebatte, mangels politischer Projekte, ein Stück Wahlkampf.
Marc Spautz sprach viel vom Sozialen. Wie wichtig Bildung und Weiterbildung seien, weil die Arbeitslosigkeit „so hoch ist wie lange nicht“. Den Ankündigungen Gilles Roths auf weniger Neueinstellungen beim Staat hielt er entgegen, man brauche aber „genug Beamte“. Und positiver Schereneffekt müsse nicht heißen, dass die Schere zwischen Ausgaben und Einnahmen „ganz zu geht“. Für den Premier von der Handelskammer ist der Fraktionspräsident vom Gewerkschaftsflügel der CSV ein asset in der politischen Debatte, denn er neutralisiert Angriffe von links. Am Mittwoch war das auch deshalb wichtig, weil DP-Fraktionschef Gilles Baum seine Partei hin und wieder von der Koalitionspartnerin abgrenzen zu wollen schien: Die DP habe „immer für sozialen Zusammenhalt“ gestanden, für eine „Politik mit einem sozialliberalen Faden“. Die Wirtschaft sei schließlich „kein Selbstzweck“.
Sam Tanson beklagte, Arme, Flüchtlinge, Mieter und die Umwelt kämen im Haushaltsentwurf schlecht weg. Taina Bofferding deponierte eine Motion zur Erhöhung von Mindestlohn und Revis. David Wagner hielt Diane Adehm vor, mit „Talenten“ und „Décideuren“ einen „Jargon des Patronats“ ins Parlament gelassen zu haben. Pirat Sven Clement, der in jedem Haushaltsentwurf nach Details sucht, die sich ausschlachten lassen, berichtete diesmal, den nationalen Mobilitätsplan PNM 2035 zu erfüllen, hieße für die CFL eine Personalerhöhung um 40 Prozent. Wie die Bahn das wohl schaffen soll?
Am wenigsten mit der vielleicht toten, vielleicht lebendigen Katze in der Kiste des Herrn Schrödinger gab sich die ADR ab. Für sie sind Gilles Roths Entwürfe „unverantwortlich“, weil daraus mehr Schulden entstehen; „ohne politisches Ziel“ und „quasi dasselbe wie in den letzten Jahren, sodass LSAP und Grüne eigentlich alles mittragen könnten“.
Stattdessen mache die ADR sich Gedanken, wie Luxemburg im Jahr 2050 aussehen soll, kündigte Fraktionschef Fred Keup an und lieferte eine erste Antwort gleich mit: „Früher konnte man sich auch als Arbeiter ein Haus leisten und die Frau musste nicht arbeiten gehen. Man brauchte nur 15 Minuten zur Arbeit. Alles war ruhiger und sicherer. In der Kannerklinik wurde man nicht nur schnell behandelt, es war auch noch angenehm.“ Den Hei elei, kuck elei gab es auch.