Vor 25 Jahren, als alle Welt noch auf Atomkraft setzte, bauten Schüler und Lehrer der Gesamtschule Tvind in Dänemark erstmals einen funktionierenden 1,2-Megawatt-Rotor. Seither hat die Windkraft einen atemberaubenden Aufschwung genommen. Beim „Windenergie-Weltmeister“ Deutschland hat sie die Wasserkraft überflügelt, drehen sich heute 15 387 Windräder mit einer Nennleistung von 14,6 Gigawatt, ein Drittel der auf dem Globus installierten Kapazität. Der Erfolg bringt aber auch Probleme: Fast alle guten Windstandorte werden nun genutzt. Einigen hundert Bürgerinitiativen ist das zuviel. Sie laufen Sturm gegen die Verschandelung der letzten unberührten Gebiete, gegen Lärm, Eis- und Schattenwurf.
Schwer trifft die Windmüller der Vorwurf, sie würden gar nicht viele CO2-Emissionen vermeiden: Einzelne Windböen können von den Anlagen ausgeglichen werden, damit aber auch bei Flaute nie Tiefkühlfächer auftauen oder Fließbänder stillstehen, müssen ständig konventionelle Kraftwerke in Bereitschaft laufen, mit gedrosselter Leistung und schadstoffintensiv. Wieviel Regelenergie die Windräder tatsächlich brauchen, ist heiß umstritten und hängt auch vom „Energiemix“ ab: Das deutsche Umweltministerium (Grüne) hätte gerne neue Gaskraftwerke, die flexibel einspringen können; der Wirtschaftsminister (SPD) setzt dagegen auf Kohlekraftwerke, die zum Anfahren Tage brauchen und mit Windkraft schlecht harmonieren. Im nächsten Jahrzehnt muss ein Drittel der deutschen Kraftwerke ersetzt werden, das Investitionsvolumen wird auf über 30 Milliarden Euro geschätzt. Entsprechend heftig wird um Marktanteile gekämpft. Der im Parlament erzielte Kompromiss für das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das Bezahlung und Abnahme des „grünen“ Stroms regelt, sieht nun vor, dass Windräder an schlechten Standorten im Binnenland keine Vergütung mehr erhalten. Ihre Zukunft soll auf dem Meer liegen, wo der Wind stärker und gleichmäßiger weht und achtmal mehr Energie liefert.
Off- und near shore gibt es bisher nur Pilotprojekte in relativ flachen, küstennahen Gewässern. Schweden, Dänemark, Holland, Großbritannien und Irland haben 331 Turbinen mit einer Leistung von 612 MW installiert. Als erster „echter“ Offshore-Windpark gilt Horns Rev in der Nordsee: Seit 2002 arbeiten dort 80 Zwei-Megawatt-Windräder in 14 Kilometer Entfernung vom dänischen Festland; die Wassertiefe beträgt allerdings weniger als 15 Meter. Die fünf genannten Länder wollen ihre Stromerzeugung auf See stark ausweiten. Holland zum Beispiel will bis 2020 offshore 6 000 MW installieren; 2005 ist der Baubeginn für zwei Windparks vor Egmond geplant. Die britische Regierung erwartet 7 000 MW. Auch andere Nationen streben mit Windrädern aufs offene Meer: Frankreich plant eher bescheidene 500 MW, Belgien 2 000.
Die größten Offshore-Ambitionen hat Deutschland. Die Bundesregierung hält 25 000 MW (15 Prozent des derzeitigen Stromverbrauchs) bis 2020 „für realistisch“. Bisher haben Betreibergesellschaften für die Zwölf-Seemeilen-Zone Anträge für acht Windparks mit 2 000 MW Leistung eingereicht. Für die Ausschließliche Wirtschaftszone (zwölf bis 200 Seemeilen) prüft das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie 25 Nordsee- und sechs Ostsee-Projekte mit einer Gesamtleistung von 60 000 MW: mehr als 20 000 Bauwerke über mehrere tausend Quadratkilometer verteilt. Um die Konkurrenz zu blockieren, werden auch Standorte in 100 Kilometer Entfernung von der Küste reserviert, die in absehbarer Zukunft nicht genutzt werden können. Windkraftindustrie und Baubranche sind in Goldgräberstimmung und stecken Claims ab.
Bis Ende August wurden sieben deutsche Offshore-Windparks genehmigt, die ab 2006 in Betrieb gehen sollen. Besonderes Aufsehen erregte „Butendiek“: Gegen die 80 Drei-MW-Turbinen 34 km westlich von Sylt hatten ausgerechnet zwei Umweltverbände, die sonst immer für eine „Energiewende“ trommeln, Klagen eingereicht. Sie befürchten erschlagene Zugvögel und verschreckte Schweinswale. Das Oberverwaltungsgericht Hamburg wies aber im Frühjahr die Klagen ebenso ab wie den Einspruch der Gemeinde Kampen gegen die „optische Beeinträchtigung“ ihres Horizonts.
Aber nicht nur die ökologischen Folgen der gigantischen Anlagen sind weitgehend ungeklärt, auch ihre technische Machbarkeit. Die rauen Bedingungen auf See und die weiten Distanzen verursachen erhebliche Zusatzkosten. Zum Ausgleich müssen die Windräder viel größer sein als die bisher erprobten. Bei Brunsbüttel wird gerade der Prototyp einer Fünf-MW-Anlage für die Nordsee errichtet: Mit über 180 Meter so hoch wie der Kölner Dom, die Rotorkreisfläche könnte ein Fußballstadium abdecken. Dazu kommt der Stromtransport durch die, meist unter Naturschutz stehenden, Küstengebiete zu den weit entfernten Verbrauchern. Die Netzbetreiber Eon und Vattenfall rechnen vor, die Offshore-Windenergie erfordere in Deutschland 1 500 Kilometer neue Hochspannungsleitungen. Ein grünes Versprechen war aber immer, die „dezentrale“ Windkraft werde die Zahl der Strommasten verringern.
Was in der Diskussion meist fehlt, ist die Frage, ob sich die Windräder überhaupt für teure Seekabel und große Stromnetze drehen müssen. Nur vereinzelt geistern Vorschläge durch die Medien, sie könnten auch Wasserstoff fabrizieren. Dabei denkt die Autoindustrie durchaus an Wasserstoff, und angeblich ist die Brennstoffzellenforschung gut unterwegs. Wer weiß? Vielleicht bastelt irgendwo eine Gesamtschule an einer Energiezukunft, die ganz anders aussieht, als von der Industrie geplant.
Martin Ebner
Catégories: Énergie
Édition: 16.09.2004