Im Osten will die LSAP mit Paulette Lenert die Nationalwahlen gewinnen. „Esou vill Sëtz wéi méiglech“ möchte die Spitzenkandidatin herausschlagen. Ob der noch größtenteils rural geprägte Bezirk für so viel Sozialismus schon bereit ist?

Ostblock

Paulette Lenert (l.) am Montag mit den sechs anderen LSAP-Kandidatinnen aus dem Ostbezirk
Photo: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land du 23.06.2023

Mëttelpunkt Das Mikrofon hält Paulette Lenert mit beiden Händen fest. Sie spricht schnell, macht kaum Pausen. Sie wolle, dass Luxemburg „méi rout“ werde, und freue sich, „mat dem Programm“ antreten zu können, „grad hei am Osten“, erzählt die designierte nationale Spitzenkandidatin der LSAP den 36 Kongressdelegierten, die sie und ihre sechs Mitstreiter/innen zuvor einstimmig als Kandidat/innen für die Nationalwahlen im Ostbezirk gewählt hatten. Mit ihrem eleganten dunkelgrünen Kleid und ihren weißen Sneakers mit den neonrot leuchtenden Zungen sticht sie auch optisch hervor, unter den vier Männern mit blauen oder grauen Sakkos und den beiden in Floral-Print gekleideten Damen, die hinter ihr auf der Bühne stehen. Das „Programm“ der LSAP wird erst am 9. Juli beim Landeskongress in Leudelingen verabschiedet, deshalb redet Paulette Lenert am Montagabend im Festsaal des Maacher Lycée von Werten und Zusammenhalt und „dem Mënsch am Mëttelpunkt“, die wegen der „Krisen, déi ustinn“ wichtiger denn je seien. Es gehe darum, den Populisten „de Bass ze halen“ und mit resoluter Stimme „fir eis Wäerter anzestoen“. Schwierige Zeiten stünden bevor, „mee mir wëssen, dass mer et als Lëtzebuerg ëmmer rëm fäerdeg bréngen opzestoen, a méi schnell ze sinn wéi déi aner“. „Wir“ stünden für das Wohlbefinden der Leute, und das sei nicht bloß eine Plattitüde.

Irgendwie sind dann doch viele Dinge, die Paulette Lenert an dem Abend sagt, Gemeinplätze, die auch vom liberalen Spitzenkandidaten Xavier Bettel oder von Luc Frieden von der CSV stammen könnten: Das Land müsse attraktiv bleiben für Betriebe, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Der Wettbewerb um Talente werde immer härter. Zufriedene Leute bräuchten „wir“ für das Wirtschaftswachstum. Die „Zäite vun der Géisskan“ seien vorbei, die Steuern müssten so verteilt werden, dass sie dort ankommen, wo sie am meisten gebraucht werden.

Sozialdemokratisch ist vielleicht, wie sie diese Probleme angehen möchte. Mit einem starken Arbeitsrecht, Chancengleichheit in den Schulen und einem leistungsfähigen Gesundheitssystem. Die mutmaßlichen Mängel, die insbesondere die CSV in den vergangenen Monaten in der Gesundheitspolitik immer wieder denunziert hatte (überfüllte Notaufnahmen, lange Wartezeiten beim IRM), rechtfertigt die Gesundheitsministerin mit dem „extrem hohen Wachstum“ – 25 Prozent in den letzten zehn Jahren –, das das System überlastet habe. Mit neuen Ideen wie Arztgesellschaften und der Dezentralisierung in Zusammenarbeit mit Spitälern werde sie es wieder auf Vordermann bringen. Und Paulette Lenert spricht von nachhaltigem Wachstum.

Steuererleichterungen für alle, wie Luc Frieden, verspricht Paulette Lenert nicht. Konkrete politische Zusagen, die zu Kontroversen führen könnten, vermeidet sie. Über die von Arbeitsminister Georges Engel ins Spiel gebrachte Arbeitszeitreduzierung, die von Xavier Bettel bereits mehrmals abgelehnt wurde, verliert sie kein Wort. Auch nicht über ein besseres Kollektivvertragsgesetz, wie es der OGBL am Dienstag bei der Vorstellung seiner Wahlforderungen mit Nachdruck verlangt. Zu höheren Steuersätzen für Besserverdienende, mit denen Dan Kersch seit vergangenem Jahr wirbt, schweigt sie ebenfalls. Nicht einmal über den Index will sie reden.

Tess Dafür gibt Paulette Lenert Wahlziele vor. Ko-Parteipräsident Dan Biancalana hatte in seiner Ansprache zu Beginn des Kongresses einen zweiten Sitz im Osten angekündigt. Der Spitzenkandidatin reicht das nicht. „Mir schwätze vun zwee Sëtz, ech géif soen, mir ginn an dat Rennen, fir esou vill Sëtz wéi méiglech hei erauszeschloen. Dat ass dat, wat mir wëllen“, skandiert die frühere Richterin und hohe Beamtin am Montagabend am Ende ihrer Kongressrede und erntet dafür tosenden Applaus von den rund 60 Anwesenden. Als Ko-Spitzenkandidat soll sie der 28-jährige LSAP-Wahlkampfmanager Ben Streff aus Berdorf unterstützen. Tess Burton (38), die seit 2011 im Grevenmacher Gemeinderat und seit 2013 in der Abgeordnetenkammer sitzt, kandidiert zwar auch wieder, Spitzenkandidatin ist sie jedoch nicht. Schon nach den Nationalwahlen 2018, als der Erstgewählte Nicolas Schmit (der am Montag als Ehrengast Kongresspräsident sein durfte) sein Abgeordnetenmandat nicht antrat, weil er 2019 EU-Kommissar werden wollte, hatte Etienne Schneider Tess Burton übergangen und die politische Quereinsteigerin Paulette Lenert in die Regierung geholt. Daraufhin hatten die Jungsozialisten aus dem Osten mit ihrem Präsidenten Ben Streff den Aufstand geprobt. Vor allem Tess Burton selbst hatte sich aber darüber geärgert. Jetzt muss sie, die 2018 nur 578 Stimmen weniger als Schmit erhielt, erneut hinter Paulette Lenert zurückstehen. Und hinter Ben Streff, der sie damals verteidigt hatte. Dabei konnte die LSAP bei den Gemeindewahlen am Sonntag ihr Resultat in Grevenmacher halten und Tess Burton konnte persönlich über drei Prozentpunkte zulegen: Sie erhielt 150 Prozent mehr Stimmen als der Zweitgewählte der LSAP, Metty Scholtes. Trotzdem gingen die beiden Wahlverlierer CSV und Grüne ein Bündnis ohne sie ein. Burton hat durchaus realistische Chancen, im Oktober Zweitgewählte zu werden. Würde die Weinkönigin von 2004 mehr Stimmen bekommen als die Spitzenkandidatin, die lange Zeit nicht im Osten, sondern in der Hauptstadt lebte, wäre das für sie eine Sensation. Für Paulette Lenert wäre es eine Blamage.

Die zweckoptimistische Lenert weiß, dass der Ostbezirk keine traditionelle Hochburg der Sozialisten ist. Über zwei Sitze (zuletzt von 1984 bis 1999) kamen sie noch nie hinaus. Seit 1989 haben sie konstant an Zustimmung verloren, 2013 wurden sie von der DP überholt und 2018 auch von den Grünen, ihren einzigen Sitz konnten sie noch knapp verteidigen. Paulette Lenert will nun schaffen, woran ihre Vorgänger Jos Scheuer und Nicolas Schmit scheiterten: „Den Oste méi rout kréien.“ Neben Ben Streff und der Verlegerin der regionalen Anzeigenblätter Muselzeidung und Sauerzeidung, Tess Burton, sollen ihr dabei vier neue Kandidat/innen helfen. Tom Bellion (59), bald in Rente gehender Direktor des hauptstädtischen Tourismusbüros LCTO, ist erst seit einem Jahr Mitglied der LSAP und wurde am Sonntag auf einer Bürgerliste als Neunter in den Schengener Gemeinderat gewählt. Politische Erfahrung hat er bereits von 2005 bis 2011 im Gemeinderat der früheren Majorzgemeinde Wellenstein gesammelt, die damals mit Remerschen und Bürmeringen zur Gemeinde Schengen fusionierte. Kenichi Breden (30) ist Lehrer und Züchter von Wagyu-Rindern, er wurde am Sonntag auf einer LSAP-lastigen Bürgerliste in den Junglinster Gemeinderat gewählt; schon sein Vater John Breden war dort Gemeinderat und Schöffe für die Sozialisten. Die Liste vervollständigen die Bankangestellte Nadine Lang-Boever (55), Sozialschöffin in Mertert, wo die LSAP seit 2017 die absolute Mehrheit hält, und der junge Geschäftsanwalt Charel Heim (25), der am Sonntag in den Echternacher Gemeinderat gewählt wurde.

Die von Georges Engel präsidierte Wahlkommission hat darauf geachtet, dass Kandidat/innen aus allen Gegenden des Ostens vertreten sind. Lediglich aus den DP-Hochburgen Mondorf und Remich, wo die LSAP mit Vítor Soares de Almeida und Guy Mathay jeweils nur einen Gemeinderat hat, ist keiner auf der Liste. In diesen beiden Gemeinden setzen die So-zialisten auf ihre Spitzenkandidatin, die in Mondorf aufgewachsen ist und seit einigen Jahren in Remich wohnt, wo sie 2017 den Einzug in den Gemeinderat nur knapp verpasste.

Terrain Trotz der Spitzenkandidatur ihrer seit der Corona-Pandemie in Umfragen glänzenden Gesundheits- und Vizepremierministerin dürfte der Osten für die LSAP schwieriges Terrain bleiben. Die Sozialstruktur in dem größtenteils ruralen Bezirk ist den Sozialisten nicht förderlich. Überdurchschnittlich hoch ist die Arbeitslosenquote nur in Befort, Echternach und Remich, leicht unter Durchschnitt liegt sie in Grevenmacher, Mertert und Mondorf. Diese sechs Gemeinden sind auch die einzigen im Osten, in denen das Medianeinkommen unter oder bei 4 000 Euro und der Anteil der Luxemburger/innen unter 60 Prozent liegt (außer in Mertert, wo er bei 62 Prozent liegt).

Für einen zweiten Sitz müsste die LSAP ihr Resultat von 2018 fast verdoppeln. Die besten Voraussetzungen im Osten hat wohl die DP: In Mondorf konnte sie sich bei den Gemeindewahlen – ohne Mittelstandsminister Lex Delles – die absolute Mehrheit sichern und in Echternach gewann sie mit der Abgeordneten Carole Hartmann zehn Prozent und stellt künftig die Bürgermeisterin. In Junglinster gewann sie mit dem neuen Bürgermeister Ben Ries und dem Fraktionsvorsitzenden im Parlament, Gilles Baum, fünf Prozent, genau wie in Remich mit Jacques Sitz.

Gegenüber 2018 geschwächt sind im Osten CSV und Grüne. Bei den Christsozialen hat die Erstgewählte von 2018, Françoise Hetto-Gaasch, ihre politische Karriere vergangenes Jahr beendet, die Zweitgewählte Octavie Modert spielt in der CSV kaum noch eine Rolle. Léon Gloden konnte in Grevenmacher seine fünf Sitze verteidigen und bleibt Bürgermeister. Allerdings hat die CSV mit dem Abgeordneten Max Hengel und der Ko-Generalsekretärin der Partei, Stéphanie Weydert, zwei Bürgermeister/innen, die schon 2018 beachtlich abschnitten. Die Grünen müssen auf Carole Dieschbourg verzichten, die 2018 Erste wurde, haben mit Henri Kox aber den Polizei- und Wohnungsbauminister und mit seiner Nichte Chantal Gary eine Abgeordnete auf ihrer Liste. Die Piraten, die entgegen dem nationalen Trend mit Daniel Frères in Remich leicht verloren und in Betzdorf mit dem früheren Sozialisten Laurent Kneip den Einzug in den Gemeinderat verpassten, dürften im Osten keine Rolle spielen. Gleiches gilt für die ADR, die 2009 ihren 1989 gewonnenen Sitz verlor und deren Stimmenmagnet Robert Mehlen (74) wohl nicht mehr kandidieren wird.

2018 war der Osten der einzige Bezirk, in dem die LSAP keinen Sitz verloren hat. Ausgewiesenes Ziel der Sozialisten ist es, im Oktober mindestens wieder auf 13 Mandate zu kommen – wie 2013, als sie ihren Jahrzehnte andauernden Abwärtstrend vorübergehend stoppen konnten. Paulette Lenert im Zentrum antreten zu lassen, wo fünf Prozent für einen Sitz reichen, wäre wahltaktisch vielleicht klüger gewesen als im Osten, wo die Hürde mit zwölf bis dreizehn Prozent wesentlich höher liegt. Zudem treten alle nationalen Spitzenkandidat/innen der vier großen Parteien im Zentrumsbezirk an, sodass sie sich mit Xavier Bettel, Luc Frieden und Sam Tanson hätte messen können. Paulette Lenert wollte aber lieber in dem Bezirk kandidieren, in dem sie wohnt, weil das ihrem „ehrlichen und authentischen Politikstil“ entspreche, heißt es aus der LSAP. Im Zentrum dürfen derweil Francine Closener und Franz Fayot sich als Spitzenkandidat/innen mit den Schwergewichten anlegen. In Abwesenheit der beiden Erstgewählten von 2018, Etienne Schneider und Marc Angel, dürfte es für den Wirtschaftsminister und die Ko-Parteipräsidentin kein Leichtes werden, den verlorenen Sitz zurückgewinnen, obwohl die LSAP am 11. Juni in der Hauptstadt und im Speckgürtel für ihre Verhältnisse gar nicht mal so schlecht abgeschnitten hat – ausgenommen ihre einzige Hochburg Steinsel, wo sie zehn Prozent verloren hat.

Nord-Süd Im Norden, wo die LSAP den Verlust von Romain Schneider verkraften muss, wird sie mit dem Spitzenduo Claude Haagen und Flore Schank (50), Koordinatorin beim Okaju und neue Schöffin in der Majorzgemeinde Feulen, in den Wahlkampf ziehen (wenn die Liste gestern nach Redaktionsschluss vom Kongress angenommen wurde). Unterstützt werden sie vom Abgeordneten Carlo Weber (57), vom scheidenden Diekircher Bürgermeister Claude Thill (59) sowie der Krankenpflegerin, OGBL-Gewerkschafterin und LSAP-Vizepräsidentin Tina Koch (45), die in Clerf auf einer Bürgerliste in den Gemeinderat gewählt wurde. Die Liste vervollständigen vier jüngere Kandidat/innen, die außerhalb ihres Wahlbezirks bislang kaum bekannt sind: die Psychologin Claude Besenius (40), die es in Ettelbrück nicht in den Gemeinderat schaffte; die Politologin Danielle Filbig (25), die in Rambrouch für eine Überraschung sorgte; Jeff Gangler (36), Bürgermeister von Bauschelt, und Michael Schenk (37), Schöffe in Wiltz. Der langjährige Wiltzer Bürgermeister Fränk Arndt, gegen den die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Korruption und illegale Einflussnahme ermittelt, ist genausowenig dabei wie der neue Ettelbrücker Bürgermeister Bob Steichen, der freiwillig verzichtete.

In ihrem traditionell stärksten Wahlbezirk Süden werden Außenminister Jean Asselborn und Innenministerin Taina Bofferding als Spitzenkandidat/innen der LSAP antreten (wenn die Liste kommende Woche vom Kongress bestätigt wird). Auch Arbeitsminister Georges Engel und sein Vorgänger Dan Kersch, die Abgeordneten und früheren Gesundheitsminister/innen Mars Di Bartolomeo und Lydia Mutsch, die député-maires aus Düdelingen und Sanem, Dan Biancalana und Simone Asselborn Bintz, sowie Yves Cruchten, LSAP-Fraktionspräsident im Parlament und neuerdings Schöffe in Käerjeng, werden wieder dabei sein. Angesichts der guten Resultate, die die Sozialisten am vergangenen Sonntag in vielen Südgemeinden einfahren konnten, dürften sich auch einige neue Kandidat/innen auf der Liste wiederfinden. Nicht zu vergessen, der LSAP-Wohnungsbauexperte und Sekretär der Fondation Robert Krieps, Max Leners, der als gesetzt gilt.

Im Süden wird im Oktober wohl die Wahl entschieden. Zwischen der wiedererstarkten LSAP und der etwas weniger starken CSV, zwischen den schwächelnden Grünen ohne Felix Braz und Roberto Traversini und der dynamischen DP ohne Pierre Gramegna. Nationale Spitzenkandidat/innen sind im bevölkerungsreichsten Bezirk nicht zu finden – außer Fred Keup von der ADR.

Luc Laboulle
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