Vor einem halben Jahr marschierte Russland in die Ukraine ein. Ein Ende des Kriegs ist noch nicht abzusehen. Interview mit dem Osteuropa-Experten Pierrot Frisch

„Der Westen war zu arrogant“

Pierrot Frisch am Dienstag in der Land- Redaktion
Foto: Gilles Kayser
d'Lëtzebuerger Land vom 26.08.2022

Pierrot Frisch studierte in Bonn Politikwissenschaften, Neue Geschichte und Slawistik mit Schwerpunkt Ostpolitik, russische und ukrainische Sprache. Anschließend wollte er zunächst in den diplomatischen Dienst Luxemburgs eintreten, machte dann jedoch eine juristische Ausbildung. 2003 zog er nach Sibiu in Rumänien und erwarb an der dortigen Universität einen Master in Sicherheitspolitik.

d’Land: Herr Frisch, vor zwei Monaten haben Sie auf einer Konferenz erklärt, in der Ukraine herrsche ein „Kulturkrieg“. Wie war das gemeint?

Pierrot Frisch: Es gab in der Ukraine über Jahrhunderte hinweg kulturelle Entwicklungen, die einen Hintergrund für den noch immer andauernden Krieg liefern. Die Sprachen spielen eine Rolle, die Religion, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung, die sich kulturell niederschlug. Das sind Konfliktfelder, die Russland seit 2014 instrumentalisiert hat. Russland wiederum ist eine alte Kulturnation und ein gefallenes Imperium. Nachdem Wladimir Putin Präsident geworden war, begann er das alte Imperium zu beschwören. Das geschah nach und nach und verstärkte sich ab ungefähr 2008 deutlich.

Was die Sprachen betriftt, ist heute vor allem die Rede von den russischsprachigen Separatisten im Donbas, die eine Sezession von der Ukraine anstreben.

Die Geschichte der Ukraine ist sehr wechselvoll. Die ersten Grenzen der modernen Ukraine zogen 1922 die Bolschewisten, als sie die Ukraine nach dem russischen Bürgerkrieg zu einer Teilrepublik der Sowjetunion machten. Als Folge des Zweiten Weltkriegs wurden polnische, ungarische und rumänische Gebiete an die Ukraine angegliedert. Die Krim kam 1954 auf Anweisung Chrustschows hinzu, der Ukrainer war. Aber man kann bis ins Mittelalter zurückgehen. Ende des 14. Jahrhunderts wurde die Litauisch-Polnische Union gegründet, eine Adelsrepublik, eine für die damaligen Verhältnisse sehr moderne Staatsform: Der Monarch wurde von einem Adligen-Parlament gewählt. Das war ein multikulturelles Großreich mit verschiedenen Ethnien und Sprachen. Eigentlich sollte niemand dominieren, doch mit der Zeit setzte Polen sich durch und betrieb eine Polonisierung in der Sprache und der Religion.

Wie wirkt das auf die Ukraine von heute nach?

Es ist Teil der Geschichte von Identitäten. Im nördlichen und westlichen Teil der Ukraine (mit Lwiw etwa) begannen die polnische Sprache und der Katholizismus sich durchzusetzen. Die Litauisch-Polnische Union währte bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Danach wurden ihre Gebiete mehrmals zwischen Preußen, Habsburg und Russland aufgeteilt. Der größte Teil, mehr als vier Fünftel, ging an Russland, das dort dann eine Russifizierung betrieb. Hinzu kam nach der Gründung der Sowjetunion die forcierte Industrialisierung des Ostteils der Ukraine mit seinen Bergwerken und seiner Schwerindustrie. Dazu wurden Arbeiter aus Russland in die Ukraine geschickt. Am Ende war die Ukraine praktisch zweisprachig, die Bindungen an Russland waren im Osten besonders groß. Sie wurden von Russland instrumentalisiert. Propagandistische Beeinflussung sollte dazu führen, dass russischsprachige Minderheiten in Luhansk und Donezk einen Aufstand machen und Russland ihnen zu Hilfe käme. Am Ende würde, wie auf der Krim, ein Parlament gewählt und dieses dann über die Vereinigung mit Russland abstimmen. Darum geht es Putin.

Sie meinen, es ging ihm nicht darum, die gesamte Ukraine einzunehmen, die Regierung zu stürzen und vielleicht einen ihm genehmen Präsidenten einzusetzen?

Doch. Aber das hat nicht funktioniert. Ich meine schon, dass Putin davon ausging, die „militärische Spezialoperation“ sei rasch erledigt. Da hat er sich verkalkuliert. Nun, nach sechs Monaten, herrscht in der Ukraine ein brutaler Kulturkrieg. Es wurde an Konfliktpotenzial mobilisiert, was sich mobilisieren ließ. Da wird nur noch geschossen. Ich weiß nicht, ob dieser Krieg sich bald beenden lässt. Man muss auch bedenken: Die russische Armee ist noch gar nicht richtig daran beteiligt…

Tatsächlich?

Offiziell kann sie es nicht sein, weil in Russland nicht von Krieg die Rede ist, sondern von einer Spezialoperation. Aber auch faktisch ist sie nur zum Teil beteiligt.

In den Medien war immer die Rede von Wehrpflichtigen, die in die Ukraine geschickt worden seien.

Das ist auch der Fall, aber überwiegend stehen auf der russischen Seite Söldner, Separatistenmilizen aus Luhansk und Donezk sowie die Nationalgarde. Das ist eine Struktur, die Putin gegründet hat, weil er der Armee nicht traut. Die wollte 1991 ja putschen. Also schuf Putin mit Hilfe des Inlandsgeheimdienstes FSB eine Parallelstruktur, die fast 400 000 Mann starke Nationalgarde, die ihm direkt unterstellt ist. Das sind Spezialtruppen. Vor allem sind sie jetzt in der Ukraine im Einsatz.

Die Spezialtruppen schafften es aber nicht, Kiew einzunehmen.

Weil sie nicht ausgebildet sind, um einen konventionellen Krieg zu führen. Sie sind eine Art kampfkräftigere Polizei, die zum Beispiel Unruhen innerhalb Russlands niederschlagen soll. Putin tut ja auch so, als handle es sich um einen internen Konflikt. Er hat der Ukraine nie den Krieg erklärt, weil es sie als Staat für ihn gar nicht gibt, so wie er das wenige Tage vor dem Einmarsch im Fernsehen erklärt hat. So dass er, falls die Nato eingreifen sollte, sagen könnte: Nun droht Russland von außen her Gefahr. Dann gäbe es einen richtigen Krieg und die reguläre Armee würde massiv eingreifen. Bisher ist sie vor allem mit Wehrpflichtigen in der Ukraine.

Sie haben Russland zu Beginn unseres Gesprächs ein „gefallenes Imperium“ genannt. Ist das ein besonderer Begriff?

Gefallene Imperien neigen dazu, wieder aufstehen zu wollen. Bis dahin kann einige Zeit vergehen. Ich sehe auf der Welt zurzeit mehrere gefallene Imperien, die wieder aufstehen wollen. China zählt ganz offensichtlich dazu, es betreibt seinen Wiederaufstieg strategisch und ganz systematisch. Ich denke aber auch an die Türkei unter Erdogan. Im Dezember 2021 erklärte er, „Türkye“ sei die beste Entsprechung und der beste Ausdruck „für die Kultur, die Zivilisation und die Werte des türkischen Volkes“. Und er stellte bei der Uno den Antrag, den Landesnamen offiziell in Türkye zu ändern. Gefallene Imperien hängen der Vergangenheit an. Sie verdrehen die Geschichte so, wie es am besten in die offiziell gewollte Interpretation passt. In Russland wird zum Beispiel alles daran gesetzt, zu vermeiden, dass eine ausländische Macht ihm jemals wieder so nahe kommen könnte wie die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Sie stand im Kaukasus, in Stalingrad und vor Leningrad. Das ist Russlands Trauma.

Wurde dieses Trauma nicht genug in Betracht gezogen, als die Nato sich immer weiter nach Osten ausdehnte?

Man kann sich fragen, weshalb die Ukraine nicht ähnlich früh in die Nato aufgenommen wurde wie andere osteuropäische Staaten. Wäre das geschehen, gäbe es den Krieg heute wahrscheinlich nicht. Die Ukraine hätte aufgenommen werden können, als Russland schwach war…

Hätte die Ukraine das gewollt? Innenpolitisch war ja die Frage, ob das Land eher dem Westen oder Russland zuneige, jahrelang der große Konfliktpunkt. Und es ist noch gar nicht so lange her, dass sich in Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung gegen einen Nato-Beitritt aussprach.

Dieselbe Frage hätte man auch zu Rumänien und Bulgarien stellen können: Wollten beide wirklich in die Nato? Ich denke, wir haben ihnen den Gefallen getan. Es ging ja um die Beistandsgarantie im „Bündnisfall“, nur darum. Erst auf der Nato-Konferenz 2008 in Bukarest, als Albanien und Kroation aufgenommen werden sollten, wurde der Ukraine, aber auch Georgien in Aussicht gestellt, irgendwann aufgenommen zu werden. Putin war auf dieser Konferenz. Er wusste, was da kommen würde. Wenn man genau nachliest, was er in Bukarest sagte, dann war das eine klare Drohung. Er sagte, wir haben unsere Interessen in Georgien und der Ukraine. Da hing auch der Kosovo-Krieg mit dran. Dass ein Teil von Serbien abgespalten wurde, war für Russland ebenfalls traumatisch.

Aber dann wäre ein Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens dem Trauma aus dem Zweiten Weltkrieg, von dem Sie sprechen, ziemlich nahegekommen und Russland hätte Grund gehabt, Angst zu haben.

Natürlich. Strategisch standen schon vorher ein paar Wege offen. Was ich sagen will, ist: Der Westen hat Russland als ein gefallenes Imperium angesehen – aber nicht als eines, das wieder hochkommen würde. Wir waren zu arrogant. Andernfalls hätte man vielleicht auch anbieten können, die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, anders einzusetzen. Die OSZE ist eine Schlafinstitution. Sie hätte aufgewertet und Russland eingebunden werden können. Ich sage: Man muss immer die Kette von Kausalitäten beachten, mit der man es zu tun hat. Man muss bedenken, welche Konsequenzen ein Handeln hat und welche Konsequenzen sich wiederum aus den Konsequenzen ergeben.

Das geschah nicht?

Nicht genug. Der Westen glaubte ans „Ende der Geschichte“ nach dem Kalten Krieg und konzentrierte sich lieber auf die Wirtschaft. Ein Eingeständnis der strategischen Fehler erkenne ich in einem Interview, das Jean-Claude Juncker am 5. März dem Luxemburger Wort gab. Er sei „maßlos enttäuscht“ von Putin, erklärte Juncker dort. Aber auch, dass er bei Gesprächen mit ihm den Eindruck hatte, „als würden die Russen sich nicht auf gleicher Augenhöhe fühlen“. Dass der Westen sich nicht an Absprachen gehalten und Waffen an der russischen Grenze positioniert habe. Und dass Russland „viel stärker“ in politische Entscheidungen hätte einbezogen werden müssen. Heute gibt es für russische Minderwertigkeitsgefühle keinen Grund mehr. Russland ist gezielt in die Offensive gegangen – auch nach dem Rückzug der westlichen Demokratien aus Irak und Afghanistan.

Wann nahm in Russland der imperiale Nationalismus seinen Aufschwung? Lässt sich das festmachen?

Nationalismus gab es auch in der Sowjetunion. Allgemein galt im Ostblock der „proletarische Internationalismus“, da war Nationalismus verpönt. Nicht aber in der Sowjetunion, vor allem in Russland nicht; Russland hielt sich immer für überlegen. Dann kam der Einbruch, die Sowjetunion hörte 1991 auf zu existieren. Unter Jelzin schlief der Nationalismus weitgehend. Man versuchte den Westen zu kopieren. In Moskau wurde sogar ein „Weißes Haus“ gebaut. Russische Juristen kamen nach Westeuropa, auch nach Luxemburg, um den Aufbau der Justiz zu studieren. Aber schon 1991 hatte Wladimir Schirinowksi eine radikale nationalistische Partei gegründet. Zwei Jahre später wurde sie sogar stärkste Partei im russischen Parlament. Diese Kräfte hat Putin systematisch unterwandert. Er tat alles, um sie entweder verschwinden zu lassen oder sie zu absorbieren. Das heißt auch, dass Russland unter Jelzin in Richtung einer Demokratie hätte gehen können – eventuell. Unter Putin hingegen hat niemand anderes etwas zu sagen als der Kreml. Seit 2005 sagt Russland, es habe eine „souveräne Demokratie“. Souverän heißt, es kommt alles von oben.

Ist das für Sie eine personalisierte Putin-Autokratie, oder sind da noch andere? Es wird ja immer wieder behauptet, würde Putin gestürzt, werde alles anders.

Es ist nicht nur Putin, es sind auch die Geheimdienste. Die haben den ganzen Staat übernommen.

Ist es dann nicht erstaunlich, dass ein solcher Geheimdienst-Staat die ukrainische Armee derart falsch einschätzte?

Ja. Ich verstehe das auch nicht. Es war ja bekannt, dass die ukrainische Armee vom Westen ausgebildet wurde, vor allem von den Kanadiern. Vielleicht war es die Fehleinschätzung von Putin an der Spitze allein. Er dachte wohl, innerhalb von ein paar Tagen wäre Kiew umzingelt, belagert, und dann käme Janukowytsch zurück. Russland hätte dann die Option gehabt, die ukrainische Verfassung nicht anzuerkennen und alles wäre geworden wie vor dem Euromaidan 2014.

Was hat es mit der Verfassung auf sich?

Es gab ein paar Etappen in der ukrainischen Politik, was einen Beitritt zu EU und Nato angeht. Auch Janukowytsch verfolgte diesen Weg eine Zeitlang, änderte aber auf Druck von Putin seinen Kurs. Daraufhin wurde die ukrainische Verfassung geändert: EU- und Nato-Beitritt seien nicht das Ziel. Dann fanden die Maidan-Proteste statt, Janukowytsch floh nach Russland und wurde vom ukrainischen Parlament offiziell abgesetzt. Das erkennt Russland nicht an, und anscheinend besteht eine rechtliche Grauzone, die sich so auslegen lässt, dass die Absetzung nicht verfassungsgemäß gewesen sei. Hätte Russland Kiew erobert und Janukowytsch zurückgebracht, hätte er wieder eingesetzt werden können. Und hätte wahrscheinlich die Vereinigung mit Russland durchgesetzt.

Hat der Westen eine Strategie, um mit dem Krieg in der Ukraine umzugehen?

Ich halte es für möglich, dass der Krieg noch lange dauert. Eben weil es ein Kulturkrieg ist. Es könnte sein, dass Frankreich, Deutschland und Großbritannien, auch wenn es nicht mehr in der EU ist, Druck auf die Ukraine machen, eine Friedenslösung zu akzeptieren. Wie die Dinge im Moment liegen, bekäme Russland dann zwar nicht die ganze Ukraine, aber den Donbas, und es würde über einen Korridor zur Krim verfügen. Ich denke aber, dass die Ukraine nicht akzeptieren wird, einen Teil ihres Territoriums an Russland abzutreten.

Es wäre auch innenpolitisch für Präsident Wolodymyr Selenskij sehr riskant.

Ja, er hat sich gut positioniert, ein anderer wäre vielleicht fortgelaufen. Dann wäre der Krieg vorbei gewesen und Putin hätte Janukowytsch zurückgebracht. Selenskij hingegen blieb. Wie und wann der Krieg endet, hängt vor allem von der Ukraine ab. Dabei spielt der Zeitfaktor eher gegen Russland: Es hat offenbar hohe Verluste erlitten. Und es ist so, dass die Kriegshandlungen auch jene Gebiete verwüsten, in denen Separatisten den Anschluss an Russland wollen. Das heißt, selbst wenn die reguläre russische Armee bisher wenig zum Einsatz kam und noch ein Reservoir darstellt, wird Putin die Verluste gegenüber der russischen Öffentlichkeit immer weniger verheimlichen können. Und er könnte die Separatisten gegen sich aufbringen. All dies birgt das Risiko, dass Russland den Krieg eskalieren lassen könnte und vielleicht andere Waffen einsetzt.

Sehen Sie die EU auf so ein Szenario strategisch vorbereitet?

Die Nato hat ihre Präsenz in Osteuropa massiv verstärkt. Das Problem der EU ist nach wie vor, dass sie außenpolitisch nicht mit einer Stimme spricht. Sie hat einen Außenbeauftragten, doch der ist schwach. Militärisch ist die EU ebenfalls schwach. Da bleiben nur die Amerikaner und die Nato, die ja auch eine politische Organisation ist. Aber die Nato kann nicht allein für die EU entscheiden. Eigentlich wäre jetzt der Moment, um einen Reformprozess loszutreten. Denn es gibt ja auch innerhalb der EU Nationalismen. Ungarn scheint sich abzunabeln. Es gibt potenzielle Konfliktherde vom Baltikum über das Schwarze Meer bis hin zum Mittelmeer.

Wie meinen Sie das?

Es gibt Anzeichen dafür, dass vom Baltikum bis zum Mittelmeer die größten Migrationsbewegungen weltweit stattfinden. Belegen lässt sich das schlecht, in den offiziellen Statistiken findet man das kaum wieder. Es leben zum Beispiel sechs bis acht Millionen Rumänen im Ausland, die in Rumänien nicht abgemeldet sind. In Bulgarien verhält sich das ähnlich. Oder nehmen wir Griechenland: Seit der Euro-Krise haben 530 000 Menschen das Land verlassen.

Es handelt sich also um ein wirtschaftspolitisches Problem?

Nicht nur. Wirtschaftlich wurden im Grunde in ganz Osteuropa beim Übergang zum Kapitalismus Fehler gemacht. Es gab fast überall ein System, das den Menschen zu Aktien an ehemaligen Staatsbetrieben verhalf. In Russland gab es das auch, man nannte das „Koupons“. Das war ein Riesenbetrug, denn so kamen Oligarchen auf. Sie machten ein Vermögen, indem sie den Leuten die Koupons für wenig Geld abkauften. Da wanderten ganze Sektoren in eine Hand. In Rumänien zum Beispiel ist die gesamte Holzindustrie in wenigen Händen, bis hin zur Möbelproduktion. Ein anderer Oligarch ist der „König des Marmors“, und so weiter. Man hätte einen Marshall-Plan für diese Länder aufstellen müssen, was aber nicht geschah. Vielleicht besteht heute noch eine Chance, wenn die industrielle Relokalisierung, von der immer mal wieder die Rede ist, gezielt nach Osteuropa erfolgt. Das ist die einzige Chance, die diese Länder haben. Sonst sind das verlorene Gebiete.

Mit allen politischen Risiken, die das in sich birgt.

Selbstverständlich. Das ist eine ganz gefährliche Situation, auch mit Blick auf Putin. Denn längerfristig könnte in diesen Ländern eine gezielte Propaganda verfangen. Man sieht es in Ungarn. In den baltischen Staaten könnte Putin ähnlich vorgehen wie in der Ukraine. In Estland und Lettland gibt es relativ große russische Minderheiten. Die neuen Staaten wurden auf einer zum Teil sehr nationalistischen Basis aufgebaut und die Russen sogar als Nicht-Bürger angesehen. Putin gab ihnen russische Pässe, daheim bekamen sie keine. Solche Menschen kann man durch Propaganda fangen. Die unmittelbare Gefahr ist nicht so groß, weil Lettland und Estland in der Nato sind. Aber die Unzufriedenheit besteht. Und dies in weiten Teilen Osteuropas. Heute dürfen die Menschen reisen, sehen sich den Westen an und kommen zu dem Schluss: Mit den 300 oder 400 Euro, die ich in Rumänien oder Bulgarien verdiene, hat alles keinen Sinn. In Bukarester Spitälern sind hochmoderne Sektionen außer Betrieb, weil keine Ärzte und Pfleger mehr da sind. So sieht das aus. Dafür muss die EU Lösungen und Integrationsfaktoren finden. Bisher lösen wir in Westeuropa unsere Probleme auf Kosten der osteuropäischen Länder. Und wie gesagt: Eine große Wirtschaftsmacht ohne militärischen Hintergrund ist schwach. Ein Weltkonzern wie Google akzeptiert eine Milliardenstrafe des Europäischen Gerichtshofs. Dagegen ließ Wladimir Putin seinen Hund ins Zimmer, als Angela Merkel ihn besuchte, weil er wusste, dass sie vor Hunden Angst hat.

Peter Feist
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