LEITARTIKEL

Es geht um alles

d'Lëtzebuerger Land du 08.10.2021

Tu Gutes und rede darüber: Umweltministerin Carole Dieschbourg und Energieminister Claude Turmes (beide Déi Gréng) erwähnten viel Gutes, als sie am Dienstag den „État de lieux“ der Luxemburger Klimaschutzbemühungen vorstellten. Sie berichteten sogar von Rekorden. „Kein anderes Modell in der EU“ sehe so viel sozialen Ausgleich für CO2-Steuern vor wie das Luxemburger. Der „Klimapakt“ mit den Gemeinden sei „einzigartig“. Idem der Gratistransport natürlich, aber auch das Tempo, mit dem hierzulande die Busflotte elektrifiziert wird. Da war es fast schon irritierend zu hören, laut EU-Kommission hätten „wir nach den Niederlanden das zweitdichteste Netz“ an Ladesäulen für Elektroautos.

Die rekordverdächtigen Leistungen aber machen nur zum Teil Aussichten auf eine wirksame Klimapolitik. Wäre die Corona-Seuche nicht ausgebrochen, hätte Luxemburg sein CO2-Ziel für 2020 (minus 20 Prozent gegenüber dem Stand von 2005) nur erfüllen können, wenn ein interministerielles Komitee beschlossen hätte, die Dieselsteuern noch schnell zu erhöhen und den Tanktourismus abzuwürgen. Andernfallls hätten aus dem staatlichen Klimafonds CO2-Zertifikate von EU-Ländern gekauft werden müssen, die Emissionsspielraum haben. Die Lockdowns aber legten den Verkehr lahm, das Tankstellengeschäft brach ein, und die CO2-Bilanz weist für Ende 2020 sogar minus 22 Prozent aus.

Was jetzt ansteht, ist viel größer. Minus 55 Prozent bis 2030. „Klimaneutralität“ bis 2050. Und womöglich käme die dann zu spät, denn der Weltklimarat IPCC hat Anfang August vorgerechnet, dass die 1,5-Grad-Schwelle der Erderwärmung schon im Laufe des nächsten Jahrzehnts überschritten werden könnte. Das ist zwar ein Worst-Case-Szenario. Es zeigt aber, dass Klimapolitik viel weiter reichen müsste, als auf Elektroautos, Wasserstoff-LKWs oder Null-Energie-Häuser zu setzen.

Zu meinen, dass viele Probleme Luxemburgs sich im EU-Verbund irgendwie auflösen werden, greift ebenfalls zu kurz. Sicherlich wird „grüner“ Strom aus dem Ausland importiert werden müssen. Wasserstoff auch. Doch was genau wird es zum Beispiel bedeuten, die „Transport-Emissionen“ hierzulande bis Ende 2030 um 57 Prozent gegenüber 2005 zu senken, wie die Regierung das geplant hat, und anschließend sicherlich noch weiter zu senken?

Heute wird unter anderem davon ausgegangen, dass der Auto-Park hierzulande bis Ende des nächsten Jahrzehnts zu 49 Prozent aus Elektromobilen bestehen wird. Carole Dieschbourg sagte beim EU-Umweltministerrat am Mittwoch, Luxemburg plädiere für ein Verbot der Neuzulassungen von PKW mit Verbrennungsmotor „eher ab 2030 als ab 2035“. Doch das wirft nicht nur die ziemlich naheliegende Frage auf, ob in den nächsten Jahren genug Ladeinfrastruktur geschaffen wird, damit wer so ein Auto daheim nicht laden kann, dies anderswo wird tun können. Sondern auch die, ob der öffentliche Transport ausreichend verfügbar und attraktiv sein wird, damit auf das Auto sehr oft verzichtet werden kann. Und: Wird es kürzere Wege zwischen Zuhause und der Arbeit geben? Werden mehr Menschen dort wohnen können, wo ein Zuganschluss besteht? Oder muss die Flucht vor hohen Wohnungspreisen weiterhin viele bis ins abgelegenste Dorf oder ins nahe Ausland führen, wo sich auf das Auto schwer verzichten lässt – und sei es eines, das grünen Strom verbraucht?

Werden Klimafragen so gestellt, werden sie plötzlich sehr komplex und betreffen im Grunde alles. Ob der Politikbetrieb, wie wir ihn kennen, dem gewachsen sein wird, ist ebenfalls eine große Frage. Schon wenn man Klimaschutz mit dem Wohnungsbau über Land zusammenbringt und damit mit so heißen Themen wie Baulandmobilisierung, öffentlicher Grundstücksreserve, Grundsteuer und Spekulationssteuer, lautet die Antwort eindeutig Nein. Und die Liste ließe sich fortsetzen.

Peter Feist
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