Aktuell findet in Nestlés hauseignem Museum in Vevey, dem Alimentarium, die Sonderausstellung #vegan statt. In einem dreißigminütigen Rundgang streift der Besucher unterschiedliche Aspekte des Veganismus: die Tierrechtsgeschichte, Umweltaspekte, Kochtrends, pop-kulturelle Aufmacher. Neben Touchscreens, veganen Kochbüchern und Postern, auf denen industriell gefertigte Fleischersatzprodukte ästhetisch aufbereitet sind, kleben Zitate von Veganern verstreut an den Ausstellungswänden – vor allem die Veganer selbst sollen zu Wort kommen. So behauptet Leon: „Ich habe mein ganzes Leben lang die Folgen und Auswirkungen meiner Ernährung ignoriert. Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass mein Genuss nicht durch das Töten von Lebewesen ermöglicht werden sollte.“
Nestlé bat vegan Lebende im Vorfeld des Ausstellungsbeginns, die Motive für ihren Ernährungsstil darzulegen. 120 Zuschriften gingen noch vor Ende 2020 ein, die zudem eine Datenbank eines mit staatlichen Geldern finanzierten Post-doc-Forschungsprojekts speisen. Bei dem Beitrag von „oli65“ beschleicht einen das Gefühl, Nestlé wolle der Stigmatisierung von Veganismus und Fleischersatzprodukten entgegenwirken: „Die größte Herausforderung waren die menschlichen Beziehungen, die sich sehr reduzieren, und das Problem pflanzliche Nahrungsmittel in Restaurants und Geschäften zu finden“. Womöglich will das Unternehmen anhand der Zuschriften und der Ausstellung den Puls des Marktes nehmen: Steht die vegane Community hinter unserer Ausstellung? Wird der Markt für Fleischersatzprodukte in den kommenden Jahren wachsen? Und auch zu Beginn der Ausstellung steht man vor dem Buzzer „Vegan?“ und kann entscheiden: Damen rauf/Daumen runter.
Bereits vor drei Jahren kritisierte die Soziologin Jocelyne Porcher öffentlichkeitswirksam in einem Beitrag in der Libération die Entwicklungen rund um den Veganismus. Der Vorwurf lautete, Veganer würden mehrheitlich nicht zwischen industrieller Landwirtschaft und kleinbäuerlichen Betrieben unterscheiden. Letztlich befördere diese Unfähigkeit, zu differenzieren, die industrielle Nahrungsmittelproduktion, wie sie Nestlé und andere multinationale Unternehmen anböten, die durch Monokulturen zur Umweltzerstörung beitrügen. Kleinbauern, die mit ihrem Tier-Mist ihre Polykulturen düngen, würden umweltbewahrend vorgehen. Veganer situiert Porcher als urbanisierte Mittelständler, die der Idee von der Natur als unberührter Einheit anhängen, eine romantische, aber falsche Vorstellung des spätmodernen Tierrechtsaktivismus.
Tatsächlich hat das Nestlé-Unternehmen sich rezent der veganen Nahrungsmittelproduktion angenähert und bezeichnet auf seiner Internetseite fleischlose Produkte als „Wachstumskategorie“. Vegetarische Mahlzeiten hätten in der Schweiz von 2017 bis 2019 ein 28-prozentiges Plus verbucht; dem Bedürfnis nach fleischlosen Menüs wolle Nestlé mit dem „kontinuierlichen Ausbau von Garden Gourmet“ nachkommen. In Deutschland zähle der „Incredible Burger“ des Unternehmens bereits zu den „umsatzstärksten vegetarischen Burger-Patties“. Eine SRF-Journalistin spekulierte allerdings diesen Frühling, dass Nestlés Rechnung bisher noch nicht aufgehe: Das fleischfreie Geschnetzelte und die Burger aus pflanzlichen Proteinen würden eher in kleinem Umfang verkauft, was auch daran liege, dass sie teurer als Tierfleisch sind. Nestlé-Präsident Paul Bulcke ist seinerseits überzeugt, die Patties seien nicht nur gut für die Umwelt – Nestlé spricht von einer 75-prozentigen CO2-Reduktion im Vergleich zu einem herkömmlichen RinderBurger –, sondern auch für die Investoren und Aktionäre. Bilden die Fleischersatzprodukte derweil noch keine bedeutende Einnahmequelle, ist Bulcke „relativ zuversichtlich, dass das relevant sein wird“, entgegnet er dem SRF.
Für Jocelyne Porcher stehen diese techno-industriellen Entwicklungen der Fleischersatzproduktion der sich über Jahrtausende hinweg etablierenden speziesübergreifenden Kooperation zwischen Tier und Mensch entgegen sowie auch handwerklichem Können – Aspekte, die derzeit nur durch das Kleinbauerntum bewahrt werden. Zudem würden Veganer übersehen, dass Nutztiere über Jahrtausende ihrer Domestizierung zugestimmt haben, und es hierbei also nicht um die schlichte Machtausübung des Menschen über Tiere gehe. Aus Sicht der Tiere sei diese Einwilligung nachvollziehbar: Bei den domestizierten Tieren handele es sich um potenzielle Beuten, deren Überlebenschance im Freien gering ist.
Mit handwerklicher Nahrungsmittelherstellung scheint das Alimentarium in der Tat recht wenig zu tun zu haben. Es liegt in Vevey direkt am Genfersee, ist geräumig, sauber, ordentlich und steht in starkem Kontrast zu organischen Wachstumsprozessen, schmutzigen Schlammspuren hinterlassenden Gartenschuhen, Kompost und Mikroorganismen des Bodens. Die Philosophie des Unternehmens beruht indes auch nicht auf der Optimierung von biologisch-organischen Prozessen, sondern auf der Herstellung von Ersatzprodukten. Heinrich Nestle synthetisierte erstmals 1867 ein lösliches Milchpulver aus kondensierter Kuhmilch und Zwieback, welches Säuglingen als Muttermilchersatz verabreicht werden konnte. 150 Jahre später besitzt der Global Payer Standorte in 186 Ländern und vertreibt über 2 000 Marken.
Kontroversen um Mangelerscheinungen, die vegane Speisepläne auslösen können, umgeht die Ausstellung nicht. Das Statement, das bezüglich Gesundheitsfragen nachwirkt, ist jedoch ein anderes: „Tofu never caused a pandemic.“ Der Spruch befindet sich auf einem Nasen-Mund-Schutz von PETA hinter einem Ansichtskasten. Ein Begleittext informiert, auf humorvolle Art wolle PETA darauf hinweisen, dass „Nutztierhaltung und Ernährung mit der Krankheit“ zu assoziieren seien. Falsch ist dies nicht, der Fleischhandel kann Zoonosen befördern.
Also sind Pflanzenburger eine gute Sache? Das hängt davon ab; beispielsweise davon, wie der Energiebedarf bei der Produktion ausfällt. Die großen Lebensmittelunternehmen sind nicht dafür bekannt, ökologisch produzierte Erzeugnisse zu verwerten. Doch gerade die Herstellung von synthetischem Stickstoffdünger ist sehr energieintensiv: Um eine Tonne Stickstoff aufs Feld zu bringen, braucht es etwa zwei Tonnen Erdöl. Dagegen ist die Bio-Kuh aus der Weidehaltung kein Klimakiller: Nicht Erdöl, sondern Sonnenenergie bildet bei ihrer Ernährung ein Schlüsselelement, das über das Gras in die Weidetiere überführt wird. Dass die Stickstoffbelastung hingegen schädigende Auswirkungen auf die Umwelt hat, wird immer deutlicher: Der Humusgehalt des Bodens erodiert und Ozeane versauern. Überdies bleibt der Gesundheitsaspekt von mit Chemikalien behandeltem Gemüse umstritten: Es verdichten sich Hinweise darauf, dass Herbizide den Polyphenolwert in Lebensmitteln senken. Polyphenole wirken allerdings wie alle Antioxidantien unter anderem krebshemmend.
Sollte man also doch Porcher folgen; sollten Umweltschützer vor allem kleinbäuerliche Strukturen mit Tierbeständen unterstützen? Das grundlegende Opponieren der Soziologin Jocelyn Porcher gegenüber Veganismus ist ebenfalls nicht unbedingt hilfreich. Denn Porcher sieht in ihren Publikationen darüber hinweg, dass beispielsweise das Schicksal von Bullenkälbern in der Milchwirtschaft in der Regel ein früher Tod bleibt und nicht jeder Kleinbetrieb zwangsläufig dem Tierwohl verpflichtet ist. Umwelt- und Tierschützer könnten deshalb Initiativen zur tierreduzierten sowie schlachtfreier Landwirtschaft und dem Ausbau der Weidetötung befürworten, um Tieren den Stress und den rabiaten Umgang im Großschlachtbetrieb zu ersparen.
Überdies ist es verkürzt anzunehmen, alle Veganer würden den transnationalen Multis in die Arme fallen. Vegan-Gruppierungen sprechen sich auf Blogs wie „vegetarische-alternativen“ gegen Nestlé und Unilever aus; ihre Produkte „sind tabu!“. Zu viel Plastik, überwürzt und überteuert seien sie, so die Vorbehalte der Community. Andere Einwände sind ethischer Natur: So wird auf die Doku Bottled Life verwiesen, in der gezeigt wird, wie Nestlé in Pakistan Einheimischen das Wasser vor der Nase weggepumpt hat, und darauf, dass das Unternehmen noch immer in die Abholzung von Regenwald zur Palmölgewinnung verstrickt ist.
Und während Porcher Veganer und Befürworter einer bäuerlichen Agrikultur in zwei getrennte Lager aufteilt, nahezu einen identitären Kommunitarismus beschwört, findet bereits ein Dialog zwischen beiden Gruppierungen statt. In Luxemburg trafen sich im Frühjahr 2021 Camille Müller von VegInfo und Änder Schanck von Oikopolis. Sie kamen überein, dass beide Seiten Antworten auf die gleichen Probleme suchen, nämlich auf die fossilgetriebene, globalisiert-industrielle Lebensmittelproduktion. Hierin bestehe eine Schnittstelle für eine mögliche Zusammenarbeit. So jedenfalls fasst Oikopolis das Gespräch auf seiner Internetseite zusammen. Beide Gruppierungen sind zudem Teil der gemeinnützigen Plattform „Meng Landwirtschaft“. Sie versucht Druck auf die Regierung auszuüben, um eine ressourcenverträgliche Landwirtschaft und eine Diversifizierung der pflanzlichen Produktion zu erzielen. Dies beinhaltet zugleich eine Reduzierung der Milch- und Fleischproduktion, um unter anderem den Eiweißfuttermittel-Import zu verringern, der neben dem synthetischen Dünger zur Klimakrise beiträgt.
Doch obwohl sich der Plattform über 20 Nichtregierungsorganisationen angeschlossen haben, bleibt ihre Wirkung auf die Politik bisher bescheiden. Vielleicht liegt dies daran, wie der Landwirtschaftsminister Romain Schneider (LSAP) vergangene Woche andeutete, dass die Kommunikationsweise des größten Bauernverbandes nahezu „infekt“ sei. Die Bauernzentrale hat über Jahrzehnte hinweg gelernt, Druck auf das Landwirtschaftsministerium auszuüben. Dennoch könnte sich das Blatt bald wenden: Landwirte machen einen zusehends geringeren Anteil an der Wählerschaft aus, Klima- und Ernährungsfragen werden derzeit öfter thematisiert und werden aktuell – wenngleich sehr bescheiden, so doch – in einem Gesetzentwurf des Landwirtschaftsministeriums zur Ernährungspolitik aufgegriffen.