Je mehr Covid-Gesetzentwürfe die Regierung ins Parlament bringt, desto lauter verlangen die Oppositionsparteien, die „wissenschaftliche Basis“ der Maßnahmen zu kennen. Beraten parlamentarische Ausschüsse mit Minister/innen und ihren Beamten über die Pandemie, beklagt die Opposition ebenfalls immer häufiger einen Mangel an „Fakten“ und unterstellt zu wenig „Wissenschaftlichkeit“. Am jüngsten Bericht über das Infektionsgeschehen an den Schulen hätten „keine Wissenschaftler mitgearbeitet“, bedauert CSV-Fraktionspräsidentin Martine Hansen. „Den hat das Bildungsministerium allein gemacht.“ Hansen findet: „Wir werden schlecht informiert. Wir müssen uns die Informationen suchen gehen.“ Es gebe die Simulationen der Forschungs-Taskforce, die öffentlich sind. „Aber das ist alles.“ Nicht einmal das Kammer-Büro, der operatio-
nelle Arm über den Fraktionen, bekomme mehr.
Das war tatsächlich einmal anders. Ende März war die Covid-Taskforce Research Luxembourg gebildet worden. Nicht die Regierung hatte dazu die Initiative ergriffen, weil damals der Notstand galt, sondern sie kam aus der Forschungs-Gemeinschaft. Hauptsächlich aus dem Luxembourg Institute of Health (LIH) und von dessen Generaldirektor Ulf Nehrbass. In 13 Arbeitsgruppen, die „Work packages“ getauft wurden, waren Forscher/innen aus ganz verschiedenen Bereichen versammelt, von der Molekularbiologie über mathematische Epidemie-Modellierung bis hin zu Wirtschaftsforschung oder Logistik. Weil LIH und Universität Luxemburg in der Taskforce besonders stark vertreten waren, wurde Ulf Nehrbass ihr Sprecher, der Mikrobiologie-Professor Paul Wilmes vom Luxembourg Centre for Systems Biomedicine der Uni ihr Vize-Sprecher. Im Work package Nummer 6, das Wilmes nach wie vor koordiniert, wurde damit begonnen, mathematische Modelle aufzustellen, um das Corona-Infektionsgeschehen nachzubilden und künftige Verläufe simulieren zu können – und Szenarien für den Fall, dass diese oder jene politische Maßnahme ergriffen würde. Solche Modellierungen gab die Taskforce ab Anfang Mai regelmäßig an die Regierung und kurz darauf jeweils auch an die Abgeordneten. Mit ihnen diskutierten die Forscher/innen die gewonnenen Ergebnisse. Ab der zweiten Maihälfte wurden die Kurven publik gemacht. Wieso auch nicht: Das Déconfinement stand bevor. Sahen die Bürger/innen, welche Auswirkungen es wahrscheinlich hätte, wenn die Baustellen wieder in Betrieb genommen, Kinder wieder in die Schule gelassen, Geschäfte wieder geöffnet würden, konnten sie besser verstehen, weshalb das Schritt für Schritt geschehen musste. Und es entstand der Eindruck, dass die DP-LSAP-Grüne Koalition eine wissenschaftlich fundierte Politik betreibe.
Heute hingegen erinnert sich Marc Baum, Abgeordneter der Linken und Mitglied im parlamentarischen Gesundheitsausschuss, wie die letzte Änderung am Covid-Gesetz mit dem teilweisen Lockdown vor zwei Wochen vom Ausschuss angenommen wurde. Und anschließend eingelagert wurde für den Fall, sie werde gebraucht. „Die Regierung sagte, wir stellen den Gesetzentwurf der Abgeordnetenkammer zur Verfügung, die entscheiden muss, ob es opportun ist, ihn zur Abstimmung zu bringen. Aber wie sollen wir das entscheiden, wenn wir nicht mehr Informationen haben?“ Dass Unmut über eine mangelnde Faktenbasis nicht nur bei der Opposition bestehen könnte, darauf deutet hin, dass Gesundheitsauschuss-Präsident Mars Di Bartolomeo (LSAP), der frühere Gesundheitsminister, eine Anfrage des Land um eine Einschätzung zum Verhältnis von Wissenschaft und Corona-Politik unbeantwortet lässt.
Ulf Nehrbass findet im Gespräch mit dem Land, die Forschungs-Taskforce liefere nach wie vor genug Informationen. Auch wenn das nun tatsächlich nur die allgemein zugänglichen wöchentlichen Berichte über die Fallzahlen und ihre mittelfristige Extrapolation über ein paar Wochen sind sowie die Analysen des Luxembourg Institute of Science and Technology zum Vorkommen von Virusresten im Abwasser. „Das ist eine ganze Menge Input“, sagt Nehrbass.
Tatsache ist freilich, dass die Taskforce viel weniger in den Medien präsent ist. Ihre letzte große Pressekonferenz gab sie Mitte September, als das LIH die Koordination des Large-scale testing an Gesundheitsministerium und Gesundheitsamt übergab. War Nehrbass vorher oft im RTL-Fernsehen zu Gast, wurde er dort seit einem Vierteljahr nicht mehr gesehen. Paul Wilmes gab nur zwei Mal ein längeres Interview, zuletzt vor zwei Wochen im Radio 100,7, als er riet, die Zahl der täglichen Neuinfektionen sollte unter 200 gedrückt werden. Nehrbass erregte vor vier Wochen einiges Aufsehen, als er dem Land erklärte, nicht mehr Sprecher der Taskforce zu sein und dass deren Aktivitäten „zurückgefahren“ wurden. Das Gesundheitsministerium wollte davon nichts gewusst haben (d’Land, 6.11.2020). In der Presse kommentiert in letzter Zeit – ähnlich wie im Februar und im März – vor allem der pensionierte Virologe und Seuchenforscher Claude P. Muller das Infektionsgeschehen.
Die offensichtliche Zurückhaltung der Taskforce in der Öffentlichkeit erklärt Nehrbass damit, dass eben dies die Normalität sein müsse. „Wissenschaftler äußern sich öffentlich im Grunde erst nach einer peer review ihrer Arbeit durch Fachkollegen.“ Der Ausbruch der Corona-Pandemie habe jedoch eine außergewöhnliche Lage geschaffen. „Das war ein Blindflug durch die Nacht, in dem niemand die Koordinaten besaß. Da wollten wir helfen, Koordinaten zu gewinnen.“ Mittlerweile aber gebe es in Luxemburg und weltweit genug davon, sodass die Politik Entscheidungen treffen könne. Nehrbass ist ganz formell: Wer als Wisenschaftler/in zu früh zu viel sagt, laufe in Covid-Zeiten Gefahr, politisiert zu werden. „Das lehne ich ab.“ Paul Wilmes fügt hinzu, dass aus dem Large-scale testing Informationen gewonnen worden seien, die so interessant sind, dass die Taskforce daraus eine Publikation für die Wisenschaftszeitschrift Lancet Regional Health gemacht hat. „Da läuft jetzt die peer review, wir haben bewusst darauf verzichtet, diese Information schon vorher publik zu machen.“
Einen Trend zur Politisierung gab es schon ab Ende April, nachdem Ulf Nehrbass mit Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) und Forschungsminister Claude Meisch (DP) die am LIH entwickelte Idee zum Large-scale testing vorgestellt hatte. In Luxemburg werde demnächst so viel getestet wie in keinem anderen Land der Welt, erklärten die drei. Das Déconfinement werde damit weniger riskant und ein „Wiederaufflammen im Sommer“ sich vermeiden lassen. Das klang auch in den Ohren der Öffentlichkeit gut, der Sommerurlaub schien gerettet. Doch nicht nur manche Ärzte zweifelten am Sinn der Massentests. CSV-Präsident Frank Engel behauptete öffentlich, sie brächten nichts, und der CSV-Abgeordnete Claude Wiseler löcherte Lenert, Meisch und Nehrbass im parlamentarischen Forschungsausschuss zu den Einzelheiten der 40-Millionen-Euro-Ausgabe für nur zwei Monate Large-scale testing aus dem Budget des Forschungsministeriums. Am Ende hielt nur die ADR daran fest, dass vielen Tests sinnlos seien, doch ganz unumstritten waren sie auch im Gesundheitsamt nicht. „Wir haben aber“, sagt dessen Direktor Jean-Claude Schmit, „absolut nichts blockiert.“ Lediglich „Fragen“ seien gestellt worden, denn die Massentests seien ein ganz neuer Ansatz gewesen, und auch aus dem Ausland habe es zunächst Kritik gegeben.
Im Juli schien die Taskforce sich selber in die politische Auseinandersetzung zu begeben: Die Infektionszahlen nahmen zu. Belgien erklärte Luxemburg zur „Zone orange“, das deutsche Robert-Koch-Institut zum „Risikogebiet“. Premier und Außenminister bemühten sich, im Ausland zu erzählen, das liege an den vielen Tests, ohne dass ihre Argumente denen eines Donald Trump glichen. Die Modellierungen der Forscher/innen im Work package 6 warnten vor einer „zweiten Welle“ nur eine Woche nach Beginn der Sommerferien, gingen aber noch weiter: Ohne zusätzliche Maßnahmen könne Ende August die Hälfte der Intensivbetten mit Covid-Patienten belegt sein und im Spätherbst womöglich alle. In den Langfrist-Extrapolationen war die Rede von womöglich 2 000 Todesfällen bis Jahresende. Die Taskforce sagte damals, die Kapazitäten zum Contact Tracing müssten schnell erhöht werden und eine Tracing App müsse her – jene App, die die Regierung immer abgelehnt hatte. Nie äußerte die Wissenschaft sich so explizit politisch wie Ende Juli. Doch sie konnte sich andererseits ihrer Sache nicht ganz sicher sein. Ihre Prognosen hatten beträchtliche Von-bis-Spannen. „Wir haben die Ungenauigkeiten damals im parlamentarischen Gesundheitsausschuss erklärt“, sagt Paul Wilmes. Es habe sich um längerfristige Extrapolationen gehandelt. „Je weiter man in die Zukunft schaut, desto mehr spielen statistische Wahrscheinlichkeiten eine Rolle.“
Konflikte mit der Regierung habe es aber keine gegeben, sagt Nehrbass. Die Zusammenarbeit sei gut gewesen und sei es nach wie vor. Heute aber halten die Wissenschaftler/innen sich sowohl mit politischen Empfehlungen zurück, als auch mit der Veröffentlichung von Intensivbett-Vorhersagen. Was die parlamentarische Opposition bedauert: „Vor drei Wochen kamen wir im Ausschuss zusammen, um über die Lage in den Kliniken zu sprechen“, sagt Marc Baum. „Da wurde uns eine Projektion der Generalinspektion der Sozialversicherung über die Bettenbelegung präsentiert. Das war erstaunlich, von ihr hatten wir noch nie eine Corona-Studie erhalten.“
Wenn Nehrbass und Wilmes betonen, die Taskforce habe der Regierung „ein gutes Toolset“ an die Hand gegeben, muss nun vor allem das Gesundheitsamt eine „Faktenbasis“ schaffen. Amtschef Schmit sagt, wissenschaftliche Expertise stehe bereit, auch wenn die Taskforce-Mitglieder sich nun mehr auf ihre Hauptaktivitäten als Forscher/innen zurückzögen. Er zählt auf: „Es gibt in der Krisenzelle der Regierung eine Arbeitsgruppe, die jede Woche die neuesten internationalen wissenschaftlichen Publikationen bespricht. Da sind auch Vertreter von Uni und LIH dabei.“ Es gebe den Conseil supérieur pour maladies infectieuses, und es gebe Expertise im Gesundheitsamt selbst. Schmit erwähnt zwei Virolog/innen sowie Pharma-Experten, und sagt: „Ich bin selber Virologe und war zwanzig Jahre in der Forschung tätig.“
Doch politische Entscheidungen ermöglichen zu wollen, an denen es nichts zu deuteln gibt, hat auch für das Gesundheitsamt und seine Expert/innen Grenzen. Inwiefern Restaurants „Hotspots“ sind und was in den Schulen vorgeht, kann Jean-Claude Schmit nicht sagen. „Verschiedene Dinge sehen wir im Contact Tracing. Das wird aber nicht richtig wissenschaftlich aufbereitet. Dazu bräuchten wir Epidemiologen, aber diese Ressourcen haben wir nicht.“ Andere Länder hätten sie auch nicht. Um zu wissen, wie hoch die Infektionsrisiken in Schulen oder Restaurant sind, bleibe nur der Blick in die internationale Literatur. „Die ist aber ziemlich dürftig, das sind vor allem Fallberichte aus Asien, die nicht weit reichen.“
Doch es scheint nicht nur um fehlende Fakten zu gehen, die Wissenschaftler/innen liefern könnten, wenn Oppositionspolitiker/innen beklagen, sie erführen nicht genug, sondern auch um Grundsatzfragen im Verhältnis zwischen Regierung und Parlament. Wie oft Grenzpendler hierzulande Covid-positiv gestestet werden, erfasst das Gesundheitsamt nach wie vor. Die Regierung macht das seit August jedoch nicht mehr publik, damit die Corona-Statistik besser aussieht. In die Prognosen der Modellierer-Gruppe fließen diese Zahlen ein. Die Abgeordneten im parlamentarischen Gesundheitsausschuss aber erhalten sie nicht. „Paulette Lenert hat uns unterstellt, wir würden sie leaken“, sagt Marc Baum. Und fügt an,„leider ist das Parlament auch zur Impfstrategie bisher völlig außen vor“. Die Gesundheitsministerin habe beruhigt: „Unser Directeur de la Santé ist auch Virologe, der macht das schon gut“.