Um islamistischem Terror daheim vorzubeugen, setzt die Regierung darauf, Radikalisierung zu verhindern. Früherkennung ist das eine, Ursachenbekämpfung etwas anderes

Wir sind dran

d'Lëtzebuerger Land du 28.10.2016

Sie hatten es nicht kommen gesehen. „Ich habe mit Personen gesprochen, die den jungen Mann kannten. Für sie war er mit einem Mal quasi über Nacht verschwunden“, erzählt Alain Wagner. Der Psychologe, im Erziehungsministerium bis diese Woche zuständig für den Kontaktpunkt Gewaltprävention und Radikalisierung (er geht in Pension), spricht von Steve Duarte. Ein junger Luxemburger portugiesischer Abstammung, der sich 2010 radikalisierte und 2014 nach Syrien ging. Im Februar meldeten portugiesische Medien, Duarte wäre in einem Hinrichtungsvideo des Islamischen Staats zu sehen. Inzwischen steht er auf einer Terrorliste.

Wagner versucht zu verstehen, was Männer wie Steve dazu bringt, Freunde und Familie zu verlassen und sich islamistischen Extremisten anzuschließen – und ob es Anzeichen für eine Radikalisierung gab, die seinem Umfeld hätten auffallen können. „Duarte entsprach nicht dem Klischee, das sich viele von Islamisten machen; er ist nicht arabisch, hat keine muslimischen Wurzeln“, stellt Marguerite Krier fest. Die frühere Leiterin der Anlaufstelle für Schüler mit Migrationshintergrund ist im Erziehungsministerium inzwischen für „institutionelle Beziehungen“ zuständig. Das Ministerium unterstützt Schulleitungen, Schulpsychologen, Inspektoren, Lehrer und Erzieher mit Schulungen zur Früherkennung von „gefährdeten Jugendlichen, die Hilfestellungen benötigen“, wie es Krier ausdrückt. Dazu gehört etwa die Früherkennung von depressiven Schülern, Jungen und Mädchen mit Lernproblemen, erhöhter Gewaltbereitschaft oder anderen Verhaltensauffälligkeiten. Seit 2015 ist die Radikalisierung hinzugekommen.

So zieht der Psychologe Wagner durchs Land, um neben Schulpersonal Polizei und Strafvollzugsbehörden über Radikalismus und Extremismus aufzuklären, Tipps im Umgang mit gefährdeten Jugendlichen zu geben. Das Weiterbildungsinstitut Ifen in Walferdingen bietet zu Radikalisierung, Prävention und Früherkennung von gewaltbereitem Verhalten mehrere Fortbildungen an; sie sind alle gut besucht. Das Personal, das in den Asylbewerberunterkünften Flüchtlinge betreut, besucht zwei Mal im Jahr eine von der Polizei organisierte Schulung zur Früherkennung von Radikalisierung. Bisher habe es aber „kein Problem“ gegeben, so Sandy Fournelle, Pressesprecherin des Integrationsamts Olai.

Alain Wagners Schwerpunkt liegt auf der islamistischen Radikalisierung, obwohl er sich im Klaren darüber ist, dass Gefahr nicht nur vom religiösen Extremismus droht. Persönlich sei er eher besorgt darüber, „was auf der anderen Seite der Mosel geschieht“, sagt Wagner mit Blick auf das Erstarken rechtsextremer Gruppen in Deutschland. Oder im Internet. Sicherheitsbehörden warnen seit einiger Zeit davor, dass sich gewalttätige Islamisten und Rechtsextremisten gegenseitig aufschaukeln könnten. In Luxemburg werden derzeit mehrere Fälle von rechtsextremen Äußerungen im Netz und Anstiftung zu Hass vor Gericht verhandelt.

Der Begriff der Radikalisierung ist zudem nicht unproblematisch: Radikale Einstellungen sind nicht auf die Religion begrenzt und sie sind nicht per se negativ: Radikale Bewegungen, wie die Aboli-tionisten in den USA, die Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika, die Anti-Atom-Bewegung oder die Frauenbewegung in Europa, stoßen nicht selten wichtigen gesellschaftlichen Wandel an. So finden die einen extremistische Ziele und Ideen nicht per se problematisch, solange sie friedlich und mit legalen Mitteln verfolgt werden; andere betonen, dass durch Extremisten der soziale Friede bedroht sei und die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Frage gestellt werde. Laut Geheimdienstgesetz gilt als extremistisch, „alles Bestreben, das darauf ausgerichtet ist, die Demokratie oder das Funktionieren des Rechtsstaats anzugreifen oder zu beeinträchtigen“, präzisiert das Staatsministerium.

Dass Wagners Beratungsauftrag durch das Erziehungsministerium sich auf den islamistischen Extremismus konzentriert, liegt nicht zuletzt an den Vorgaben aus Brüssel. Vor gut zwei Jahren schienen der Krieg in Syrien und seine terroristischen Ausläufer noch weit weg. Zwar warnte der beigeordnete Staatsanwalt Georges Oswald in einem Wort-Interview im Juli 2014 davor, dass das „Phänomen der Syrienkämpfer“ auch für Luxemburg „sehr real“ sei. So genannte „Lone Wolves“, junge Menschen, die sich „vom Rest der Gesellschaft abkapseln, (...) radikalisiert werden, sich indoktrinieren lassen und irgendwann zur Tat gegen ,Ungläubige’ schreiten wollen“ , beschäftigten Sicherheitsbehörden schon länger, so Oswald. Aber erst mit den Attentaten in Paris und Brüssel rückte die terroristische Bedrohung ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Seitdem wird in der Sicherheitspolitik massiv aufgerüstet, soll ein Notstandsartikel in die Verfassung, sollen die Befugnisse von Polizei und Staatsanwalt massiv ausgedehnt werden, treibt der Justizminister die Vorratsdatenspeicherung und Internetüberwachung voran. Wie die anderen EU-Staaten ratifizierte Luxemburg die UN-Resolution über ausländische Kämpfer. Sie stellt die Planung von Anschlägen, das Reisen in Länder mit Terrorcamps, sowie jegliche Finanzierung von Terrorgruppen unter Strafe. Der damalige Generalstaatsanwalt Robert Biever stellte nachdenklich fest, mit den Gesetzen werde die Strafbarkeit immer weiter in die Vorbereitung einer Tat vorverlagert.

Bislang ist hierzulande kein Syrien-Rückkehrer bekannt, und eine (oder mehrere) islamistische Szene wie in Belgien, Deutschland oder Frankreich gibt es wenn, dann allenfalls in sehr kleinem Umfang. 2014 schätzte der Geheimdienst die Zahl radikal-islamistischer Muslime in Luxemburg auf unter 100. Laut einer aktuellen parlamentarischen Anfrage wissen die Sicherheitsbehörden von weniger als zehn Personen, darunter einer Frau, die nach Syrien reisten. Sie stehen auf den Fahndungslisten von Europol und Schengen. Die weit überwiegende Mehrheit der Muslime jedoch praktiziert einen moderaten Islam, ihr Anlaufpunkt ist die Moschee in Mamer. Inwiefern sie in Programme gegen Radikalisierung eingebunden sind, ist unklar: Eine Land-Anfrage an die Schura blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Der Einfluss von Moscheen oder Hasspredigern hierzulande auf eine Rekrutierung und Radikalisierung von Dschihadisten wird ohnehin gering eingeschätzt. „Das Internet, soziale Netzwerke spielen eine wichtige Rolle“, sagt Alain Wagner. Suche jemand exzessiv Seiten mit islamistischen Inhalten auf, „sollte man hellhörig werden“, rät der Psychologe. Veränderungen in der Kleidung, im Verhalten, bei den Essgewohnheiten könnten ein Indiz für eine Radikalisierung sein, müssen es aber nicht. „Die Terroristen, die in Europa Anschläge verüben, sind hier geboren und fallen kaum auf.“

In seinen Kursen stellt der Psychologe eine große Verunsicherung fest: Lehrer, die muslimische Gepflogenheiten nicht kennen, bitten um Rat, wie sie verschiedene Rituale oder Verhaltensformen einordnen sollen. Das Rundschreiben von Minister Claude Meisch, das Schülern das Tragen der Kippa, des Kreuzes oder des Kopftuches erlaubt, hilft nicht wirklich bei der Orientierung, zumal wenn es Konflikte gibt. „Wenn jemand plötzlich mit Kopftuch in der Klasse erscheint, sich einen Bart wachsen lässt oder im Schwimmbad einen Burkini trägt, muss das kein Zeichen für eine Radikalisierung sein“, betont Alain Wagner. Es könne sich um eine orthodoxe Auslegung des Islams handeln. „Bei Weitem nicht jeder orthodoxe Muslim oder Salafist ist ein Anhänger des IS“, so Wagner weiter. Allerdings: „Praktisch alle europäischen Dschihadisten sind Salafisten“, schreibt Extremismusforscher Peter Neumann vom Londoner King’s College in seinem Buch Die neuen Dschihadisten.

„Es kann potenziell jede Familie treffen“, unterstrich Claudia Dantschke in einem ZDF-Interview. Es seien „Jugendliche aus ganz verschiedenen Familien, mit Migrationshintergrund und ohne, aber sie haben alle Frust in ihrem Leben erlebt. Sie haben innerfamiliäre Probleme, sie haben Schwierigkeiten, ihren Weg zu finden, sie sind unzufrieden mit ihrem Leben und suchen einen leichten Ausweg.“ Die Berliner Islamforscherin leitet Hayat e.V., eine Deradikalisierungs-Beratungsstelle in Deutschland. Oft seien es autoritäre Erziehungsmethoden, Schulprobleme, Verlusterfahrungen, Scheidungen, die den Ausschlag für eine Radikalisierung geben. Politische Salafisten und andere Extremisten stießen in ein „Vakuum“, in emotionale und gesellschaftliche „Defizite“, die sie geschickt für sich ausnutzten. An Stelle der Herkunftsfamilie tritt dann die islamistische Ersatzfamilie, Mentoren, die Geborgenheit, Gemeinschaft und Orientierung vermitteln und dieselbe Weltsicht teilen.

Unter Islamforschern ist ein Streit darüber ausgebrochen, welchen Stellenwert die Religion bei der Rekrutierung Jugendlicher aus Europa für dschihadistische Gruppen hat. Der politische Islam, die Attraktivität des IS seien nicht ohne die Geschichte des Islams, der unterschiedlichen Strömungen und der Genese islamistischer Bewegungen zu verstehen, betont Gilles Kepel, Islamforscher an der Universität Sciences Po in Paris. Laut Kepel sind Kolonialismus und gesellschaftliche Ausgrenzung durch Wohnghettos, Arbeitslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit ganz entscheidende Faktoren bei der Radikalisierung französischer IS-Attentäter. Olivier Roy, Islamforscher am European University Institute in Florenz, sieht dagegen weder die Religion als Motor, noch eine gescheiterte Integration. Rund 80 Prozent der europäischen Dschihadisten sind männlich. Zunehmend sind Kriminelle darunter, angezogen von der gewaltverherrlichenden Propaganda und der Aussicht auf schnellen Ruhm und Reichtum. Bisher ist hierzulande kein Fall bekannt, dass Straftäter sich in Haft radikalisiert hätten. Der scheidende Gefängnisdirektor Vincent Theis warnte im Frühjahr jedoch vor der Gefahr einer Radikalisierung von Gefangenen. Seit April hat die Schrassiger Haftanstalt einen Imam für die Seelsorge, der sich um die „spirituelle Begleitung“ der geschätzten 100 muslimischen Gefangenen kümmern soll.

Für Roy sind die europäischen Dschihadisten selten politisch motiviert, sondern eine Art „Jugendrevolte“, ein Aufbegehren vor allem junger Männer gegen eine komplexer werdende, ambivalente Welt. Persönliche Niederlagen, Ohnmacht und Orientierungslosigkeit, reale Diskriminierungserfahrungen würden durch eine Überbetonung der Muslime als Opfer und islamische Mystik ins Positive umgedeutet: Das Leben im Diesseits wird als Prüfung verstanden, der bewaffnete Kampf gegen Ungläubige als Weg, sich ein Platz im Jenseits zu sichern. Den absoluten Wahrheitsanspruch, narzisstische Allmachtsfantasien, die eigene Gemeinschaft als Elite zu verstehen, die für eine bessere Welt kämpft, die Einteilung in Freund und Feind hat der dschihadistische Salafismus mit anderen totalitären Ideologien gemein.

Trotz aller Deutungsunterschiede sind sich die Experten in einem Punkt einig: Eine Turbo-Radikalisierung, bei der ein völlig unauffälliger, gesunder Mensch über Nacht zum Terroristen wird, ist unwahrscheinlich. Meistens zeigen sich Anzeichen für eine Radikalisierung im sozialen Nahraum, bei der Familie, bei Freunden, so Claudia Dantschke. Nicht der Islam sei das Problem, sondern die Jugendlichen hätten „etwas in ihrem Leben nicht gefunden“, sagte sie dem ZDF-Morgenmagazin. Je früher Eltern Beratungsstellen anrufen, umso besser könne man helfen und etwa auch „Hysterie abschwächen, weil jemand betet“. Auch der Luxemburger Duarte fiel seinen Freunden durch immer radikalere Äußerungen und Ansichten auf. Auf Youtube findet sich ein Rap-Video vom November 2010, in dem Duarte über einen Amokläufer singt, der Angst und Terror in einer Schule sät. Drei Jahre darauf wurde Duarte gefilmt, wie er und seine Glaubensbrüder den Koran in der hauptstädtischen Fußgängerzone verteilen. Das war, bevor er in den Dschihad zog.

Erfolg versprechende Angebote, um Jugendliche vor Radikalisierung zu bewahren, respektive bereits radikalisierte Jugendliche zurückzugewinnen, setzen bei der Sozialarbeit an, und nicht bei Polizei oder Geheimdienst. Bei der seit dem 1. Oktober bestehenden anonymen Hotline 2477-2477 gehe „kaum ein Anruf“ ein, sagt Polizei-Pressesprecher Frank Stoltz auf Land-Nachfrage. Im Frühjahr soll eine neue Hotline beim Familienministerium starten, bei der sich Eltern und Familienangehörige, Sozialarbeiter und Lehrer melden können, die Angst haben, ihr Kind, ihr Schüler könne sich radikalisieren. Dort sollen sie dann nicht nur Beratung erhalten, sondern, falls gewünscht, eine kontinuierliche Begleitung. Einzelheiten zum Konzept stehen noch nicht fest.

Ines Kurschat
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