Der Übergang von der Schule ins Erwerbsleben gestaltet sich für junge Menschen immer schwieriger. Die Uni Luxemburg hat im Jugendbericht 2015 die Gründe analysiert

„Passungsprobleme“

d'Lëtzebuerger Land du 12.02.2016

Reger Andrang im großen Saal in der Escher Kulturfabrik: Mehrere Hundert Jugendliche, teils mit ihren Eltern, sind diesen Mittwochmorgen gekommen, um sich an verschiedenen Ständen über mögliche Jobs zu informieren. So auch Nora* (Name der Redaktion bekannt). Sie ist 18 Jahre alt und hat ihren Vater und zwei Freundinnen dabei. „Ich suche einen Ferienjob und hoffe, hier etwas zu finden“, sagt die Schülerin des Jungenlyzeums in Esch und schaut sich suchend um. Was sie genau machen will, weiß sie noch nicht: „Hauptsache, ich verdiene etwas Geld hinzu.“

Die meisten Jungen und Mädchen, die an diesem schulfreien Tag in die Kufa gekommen sind, suchen eine Beschäftigung für den Sommer. „Das Leben ist teuer und da wäre es gut, wenn man etwas mehr hätte als nur das Taschengeld von den Eltern“, sagt Mario. Es ist sein erstes Mal auf der Jobbörse, die der Point info jeunes (PIJ) in Esch zum dritten Mal veranstaltet. Bisher hat er noch nicht viele Angebote gefunden, die in Frage kämen: „Die meisten Jobs, die hier angeboten werden, sind für Schüler und Studenten, die über 18 Jahre alt sind und die einen Führerschein haben“, weiß Marc Bregoli vom Centre d’information pour jeunes in Bonneweg. Sein staatlich unterstützter Verein sammelt Stellenanzeigen, hängt sie aus und berät Jugendliche.

Doch auch wenn die Mehrheit, die sich vor den voll gepackten Leinwänden drängt, augenscheinlich sehr jung ist, gibt es Besucher, die auf die 20 Jahre zugehen oder sie bereits überschritten haben. Pedro ist 19 Jahre alt und hat eigentlich eine Lehrstelle. Doch auch er sucht einen Job „für den Sommer oder am Wochenende“. Die 950 Euro, die er als Maurer-Lehrling im Monat verdient, reichen ihm nicht. Außerdem will er praktische Erfahrung in anderen Bereichen als im Bau sammeln. Mit seinem Certificat de capacité profesionnelle (CCP), das er voraussichtlich im nächsten Jahr erhalten wird, komme er nicht weit, ist Pedro überzeugt. „Ich zähle quasi schon die Monate bis zur Arbeitslosigkeit“, sagt er frustriert.

Wie dem jungen Mann geht es Tausenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Luxemburg. Sie sind die Leidtragenden einer Entwicklung, die sich seit mehreren Jahren abzeichnet: Immer mehr Jugendliche schaffen den Sprung in den Arbeitsmarkt nicht ohne weiteres. Mit 22 Prozent Arbeitslosigkeit liegt die Quote der arbeitslosen unter 25-Jährigen hierzulande deutlich höher als in Deutschland, Österreich oder den Niederlanden.

Wer über eine Null-Bock-Jugend lästert, ist aber falsch gewickelt. Schuld daran ist vielmehr eine unsichere Ausgangslage. Nachdem sich das Land von einer Industrienation in eine Dienstleistungsgesellschaft wandelte, war der Finanzsektor lange Zeit die boomende Branche. Heute ist die Branche immer noch stark, aber auch der Sozialsektor wächst. Außerdem tun sich neue Branchen auf, wie die Logistik oder IT. Aber die Jobs in Banken, Versicherungen, Wissenschaft sowie im Handwerk oder Gewerbe besetzen zunehmend nicht gebürtige Luxemburger, sondern Arbeitskräfte aus der Großregion. So ist die Anzahl der Erwerbstätigen zwischen 1995 und 2015 laut Statistischem Amt von knapp 194 000 auf 376 000 gestiegen. Aber während 1995 rund 72 Prozent der Erwerbstätigen auf dem Arbeitsmarkt hierzulande ansässig waren, waren im ersten Quartal 2015 nur noch 56 Prozent.

Unternehmen suchen gut ausgebildete Fachkräfte, die sich mit dem im Vergleich zum Staatsdienst bescheideneren Einstiegsgehältern im Privatsektor zufriedengeben. Die Folge: Der Arbeitsmarkt ist stark segmentiert. Im Bau- und Gastgewerbe dominieren portugiesische und französische Arbeitnehmer, Luxemburger dominieren in der öffentlichen Verwaltung und im Bereich der Energieversorgung.

Und Jugendliche, vor allem jene, die ohne Schulabschluss oder Ausbildung sind, haben dabei das Nachsehen. So wie Patricia, eine 29-jährige Mutter, die die Schule hingeschmissen hat und eine Arbeit sucht. Sie ist eine von mehreren Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Forscher der Universität Luxemburg in Rahmen ihres jüngst veröffentlichten zweiten Nationalen Berichts zur Situation der Jugend 2015 befragt haben. Der Forschungsschwerpunkt liegt auf den Übergängen von der Jugend ins Erwachsenenleben. Die Forscher haben auf den über 400 Seiten nicht nur allerlei Zahlen und Fakten über die demografische Entwicklung, die Bevölkerungsstruktur und Beschäftigungsmaßnahmen und Berufseingliederungsmaßnahmen wie dem Contrat d’appui-emploi (CAE) oder dem Contrat d’initiation d’emploi (CIE) zusammengetragen. Sie haben überdies mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen über ihre Schwierigkeiten und Hindernisse gesprochen, denen sie auf ihrem Weg von der Schule in den Beruf und in die Selbständigkeit begegnen. Die Tücken des Erwachsenwerdens eben.

Dabei haben die Forscher vier Typen ausgemacht: Jungen und Mädchen, die ohne größere Schwierigkeiten Schule und Ausbildung oder Universität durchlaufen, die von zuhause unterstützt werden und denen der Wechsel ins Berufsleben gut gelingt. Dann diejenigen müssen, die den einen oder anderen Umweg zurücklegen, bis sie dann ihren Weg ins Erwerbsleben finden. Sei es, indem sie eine Schulklasse wiederholen oder das Studienfach wechseln. Auch sie werden in der Regel von ihren Eltern unterstützt.

Andere Jugendliche bekommen Hilfe vom Staat oder von anderen Initiativen. Sie hatten bereits in der Schule Lernprobleme, oft ringen sie mit der Sprachensituation, sie haben vielleicht frühzeitig die Schulbank verlassen und im Anschluss keine Lehre gefunden. Über die Schule der zweiten Chance, eine Beschäftigungsinitiative der Arbeitsverwaltung Adem oder eine andere Fördermaßnahme versuchen sie, doch noch den Sprung auf den Arbeitsmarkt zu schaffen. An diesen Jugendlichen fiel den Forschern auf, dass sie von zuhause wenig bis keine Unterstützung erhalten.

Und dann gibt es schließlich die Jugendlichen, bei denen alles das nichts half: Bei der Vorstellung des Jugendberichts vor zwei Wochen fiel es Forschungsleiter Helmut Willems sichtlich schwer, von dieser Gruppe als den „Gescheiterten“ zu sprechen. Der Jugendforscher betonte, es handele sich nur um eine Momentaufnahme. Allen Jungen und Mädchen in dieser Gruppe war gemein, dass sie den Sprung auf den Arbeitsmarkt zu dem Zeitpunkt nicht geschafft haben. Sie hatten die Schule abgebrochen, mehrere Anläufe unternommen, dennoch eine Ausbildung oder eine Anstellung zu finden – vergebens.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Viele Jugendliche bekamen nicht dieselbe Unterstützung von ihren Eltern wie diejenigen, denen der Wechsel gelang. Sie fühlen sich benachteiligt und sind es womöglich auch. Immerhin knapp die Hälfte der 24 befragten jungen Erwachsenen mit Übergangsschwierigkeiten hatte einen Migrationshintergrund. Von ausländerfeindlichen Erfahrungen berichten zwar nur Einzelne, aber Lima aus Esch ist überzeugt: „Viele Arbeitgeber denken in Schwarz und Weiß. Es hat bestimmt auch mit meiner Hautfarbe und meinen Haaren zu tun“, sagt der 19-Jährige frustriert. Der gebürtige Kap-Verdier trägt eine schwarze Mütze über seinen Rasta-Haaren. Er hat über 30 Bewerbungen verschickt, alle ohne Antwort. Nun hofft er, ein passendes Angebot über die Jobbörse zu finden.

Liest man den Jugendbericht und hört man die Erfahrungen, die Jugendliche schildern, scheint es trotz hoher Jugendarbeitslosigkeit Erfolgsfaktoren zu geben: Wer in Luxemburg geboren ist, keine Probleme in der Schule hatte, die Sprache(n) spricht, wer Eltern hat, die in der Schule und bei der Berufswahl unterstützend wirken, bei dem ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er oder sie nach der Schule gut in den nächsten Lebensabschnitt startet. Der Jugendbericht schreibt die Ergebnisse aus der Pisa-Bildungsstudie fort: Kindern aus der sozialen Unterschicht und Einwandererkindern (insbesondere aus Portugal und den Kap-Verden) fällt es schwerer, in der Schule zu bestehen – und sie nehmen diesen Nachteil quasi als Hypothek mit ins weitere Leben. Mit teilweise gravierenden Folgen: Was Soziologen hölzern „Selbstwirksamkeitsempfinden“ und „interne und externe Attribuierungsmuster“ bezeichnen, beschreibt die psychologischen Folgen von gescheiterten Übergängen auf das Selbstvertrauen und das Selbstbild der Männer und Frauen: ein niedriges Selbstwertgefühl, Depressionen, Isolation, Schuldzuweisungen gegen sich selbst und andere, wie die Eltern, die Adem, die Schule.

Die Jugendforscher der Uni Luxemburg haben außerdem untersucht, wie Beschäftigungs- und Unterstützungsmaßnahmen, mit denen der Staat arbeitssuchenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen (bis 35 Jahre) unter die Arme greift, bei diesen ankommen und ob sie ihnen helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Auf den ersten Blick scheinen alle 1 162 befragten Teilnehmer recht zufrieden: Die Maßnahmen werden insgesamt positiv bewertet, Jugendliche loben daran, dass sie berufliche Erfahrungen sammeln können und dass sie eine zweite Chance erhalten.

Im Jugendcafé des Escher PIJ sitzt ein solcher Jugendlicher: Luis, 22 Jahre alt, weiß, was er will. Mit zehn Jahren war der Portugiese nach Luxemburg gekommen, hat mit Müh und Not die Schule abgeschlossen und zunächst Maurer im CCP, dann im höheren CATP gelernt. Weil die Baufirma, wo er drei Jahre lang gearbeitet hat, plötzlich in Konkurs ging, meldete sich Luis aus eigener Initiative bei der Arbeitsverwaltung für eine Umschulung an. Heute lernt er für den Kranführerschein. Luis ist voll guter Hoffnung: In seiner Familie arbeiten fast alle beim Bau, der junge Mann mag es, draußen zu sein und im Kontakt mit anderen Arbeitern auf der Baustelle zu stehen.

So glatt wie bei Luis läuft es aber längst nicht immer: Immerhin ein Fünftel der von der Uni Befragten äußert Kritik an den Beschäftigungsinitiativen. Sie bemängeln eine schlechte Organisation und fühlen sich unterfordert. Sie sehen den persönlichen Nutzen nicht, weil sie sich entweder nicht individuell genug betreut fühlen oder den Eindruck haben, die Maßnahme läuft an ihrer Qualifikation oder ihrem Berufswunsch vorbei. Nicht wenige beklagen, dass sie von einer Maßnahme in die nächste wechseln, ohne jemals den begehrten festen Vertrag zu erhalten. Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene in einer Maßnahme für geringer Qualifizierte, scheinen stärker davon zu profitieren. So gesehen, hat das Phänomen, was die Forscher „Passungsprobleme“ nennen, mehrere Seiten: Nicht nur sind viele Jugendliche hierzulande nicht gut genug qualifiziert, um gegen die ausländische Konkurrenz zu bestehen. Unternehmen verlangen immer öfters Fachkräfte, derweil der Niedriglohnsektor allmählich an Bedeutung verliert. Auch das Arbeitsamt und die Berufsinformationsstellen scheinen nicht immer genau genug hinzuschauen und vermitteln die Jugendlichen bisweilen in Maßnahmen, die mit ihrer Ausbildung oder ihrem Berufswunsch wenig bis gar nichts zu tun haben.

In diesem Sinne ist der Bericht als eine Aufforderung an die Politik und die Behörden zu lesen, ihre Anstrengungen im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit zu verbessern, die Maßnahmen zielgenauer zu gestalten. Vor allem aber nachhaltig gegen strukturelle Benachteiligung vorzugehen. Erziehungsminister Claude Meisch (DP) hatte bei der Vorstellung des Berichts gesagt, man werde ihn „ausführlich analysieren“. Denn auf den 400 Seiten haben die Forscher weitere wichtige Aspekte des Erwachsenenwerdens untersucht: etwa die Wohnsituation, wie Jugendliche Beziehungen leben oder wie sie sich politisch beteiligen und gesellschaftlich einbringen.

Eines lässt sich ohne detaillierte Lektüre sagen: Das Bildungssystem benachteiligt Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern. Ihre ohnehin schlechteren Startchancen werden durch die Schule nicht verbessert, im Gegenteil: Sie verfestigt die soziale Ungleichheit und führt im schlimmsten Falle dazu, dass Tausende Talente ungenutzt bleiben. Wahrlich keine neue Erkenntnis. Wegen des großen Anteils nicht-luxemburgischer Kinder an der Gesamt-Schulbevölkerung dürfte sich die Problematik in Zukunft weiter verschärfen. Man darf also gespannt sein, welche Empfehlungen für den Jugend-Aktionsplan die Experten zurückbehalten werden – und wie die Politik diese umzusetzen gedenkt. Wenn sie den Bericht wirklich ernstnehmen will, beteiligt sie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen an der Lösungssuche. Die Zeit drängt.

„Success and Fortune“ steht in goldenen Buchstaben auf der Kappe des jungen Mannes, der sich im Kufa-Saal zu den Jobangeboten durchgekämpft hat. Gefragt, wie er in die Zukunft blickt, antwortet er achselzuckend: „Ich weiß es nicht.“ Damit ist er nicht alleine: Jeder zweite der befragten Jugendlichen fühlt sich laut Jugendbericht mehr als hilflos, wenn er an die Zukunft denkt.

Ines Kurschat
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