Die Jungen, die jeden Tag auf den grauen Betonklotz vor ihrer Haustür schauen, nennen ihn einfach „eise Prisong“. Und auch einer seiner Väter, der CSV-Abgeordnete und Sozialpolitiker Mill Majerus, hatte die Einrichtung auf dem Gelände des staatlichen Jungenheims in Dreiborn in der Gemeinde Wormeldingen einmal so genannt. Zwei Jahre nach Fertigstellung der Unité de securité, kurz: Unisec, ist die Frage nicht endgültig geklärt, wer in dem Zehn-Millionen-Euro-Bau mit Panzerglas und hohen Sicherheitszäunen überhaupt unterkommen wird. Ursprünglich sollten dort minderjährige Jugendliche eingewiesen werden, die wegen der Schwere ihrer Taten zum Schutz vor sich selbst und von anderen im Erwachsenengefängnis in Schrassig eingesperrt sind. Eine Praxis, die vom Europäischen Antifolterkomitee, vom Ombudskomitee für Kinderrechte oder der Menschenrechtskommission wiederholt beanstandet wurde und bis heute wird, aber nachgelassen hat: Derzeit sind drei Minderjährige in Schrassig eingesperrt.
Doch Luxemburgs Jugendrichter wollen, aller internationalen Kritik zum Trotz, auf die Möglichkeit, Minderjährige zu inhaftieren, nicht völlig verzichten. Sie fürchten, der Platz könnte nicht ausreichen. Der Streit darüber, ob die Unisec ein Erziehungsheim für schwer verhaltensauffällige Jugendliche oder Endstation für jugendliche Schwersttäter ist, oder ob nicht doch Minderjährige im Erwachsenengefängnis eingesperrt werden können, ist einer der Gründe, warum es mit der Inbetriebnahme nicht vorangeht. Um diese Blockade zu lösen, müsste die Reform des Jugendschutzgesetzes verabschiedet werden. Sie ist überfällig, denn es gibt Praktiken im Jugendschutz, die aus kinderrechtlicher Perspektive überholt sind, etwa der automatische Entzug des elterlichen Sorgerechts bei einer richterlichen Heimeinweisung. In seinem ersten Entwurf hatte der damalige Justizminister François Biltgen (CSV) die Unterbringung Minderjähriger im Erwachsenenstrafvollzug verbieten wollen. Doch weil sich die Jugendrichter massiv wehrten, sollte diese Hintertür auf einmal doch offen bleiben.
Inzwischen ist die Unisec bezugsfertig – und trotzdem steht sie leer und Jugendliche sitzen weiter in Schrassig ein, weil rechtliche Grundsatzfragen nicht geklärt sind. Allein die Ausgaben für Heizöl, Elektrizität und Wasser belaufen sich auf rund 300 000 Euro jährlich. Biltgens Nachfolger, der Grüne Félix Braz, hatte zugesagt, sich des Problems zügig anzunehmen. Dafür setzte er 2014 eine Arbeitsgruppe ein, in der neben dem Kinderrechtsbeauftragten René Schlechter, dem Präsidenten der Menschenrechtskommission, den Kontrolleuren des Service du contrôle externe des lieux privatifs de liberté (CELPL) auch Jugendrichter und Vertreter der Staatsanwaltschaft sitzen.
Doch trotz mehrmaliger Treffen hat sich die Gruppe zuletzt nur im Kreis gedreht: Die Fronten blieben verhärtet, hier die Richter, die an einer Hintertür festhalten, dort die Kinderrechtler, die dem Wegsperren Minderjähriger in Schrassig endgültig eine Riegel vorschieben wollen. Und mittendrin ein Justizminister, der nicht entscheiden kann oder will. Auf einer der letzten Sitzungen im Juni 2015 soll Doris Woltz, damals Staatsanwältin, der Kragen geplatzt sein: Warum sich weiter treffen, wenn alle Positionen bekannt sind, fragte sie in die Runde. Es folgte Luxemburgs EU-Vorsitz – der Justizminister hatte Anderes zu tun.
Im September wollten die Kinderrechtler nicht länger warten. Sie schrieben Braz einen Brief, in dem sie ihn aufforderten, Streitpunkte, wie etwa das martialische Auftreten der Polizei in Schulen und Heimen, die Beschränkung richterlich verhängter Erziehungsmaßnahmen höchstens bis zur Volljährigkeit, sowie die Unterbringung in Schrassig zu klären. Braz versprach, zu handeln. Doch seitdem ist nichts geschehen. Stattdessen hieß es, jugendliche Straftäter könnten eventuell im neuen Untersuchungsgefängnis bei Sassenheim untergebracht werden – als ob das am Grundproblem etwas ändern würde.
Immerhin: Das Erziehungsministerium, das für Dreiborn verantwortlich ist – und damit für die Unisec, die unter der Leitung des Jungenheims steht – hat seine Hausaufgaben inzwischen fast erledigt. Der Kontrolldienst CELPL hatte bei seinen Visiten in Dreiborn wiederholt Personalmangel festgestellt und unhaltbare Zustände bemängelt. Dass die Unisec neben dem Jungenheim steht, war den Kontrolleuren von Anfang an ein Dorn im Auge. Sie plädieren für eine Dezentralisierung in überschaubare Wohneinheiten, um den unterschiedlichen Profilen – vom notorischen Schulschwänzer, über Drogenabhängige bis hin zum Sexualtäter – besser Rechnung zu tragen. Die Unisec wäre nach dieser Lesart die ultima ratio, wenn andere Erziehungsmaßnahmen nicht mehr greifen.
Außerdem monierten die Inspektoren undurchsichtige und nicht immer rechtskonforme interne Prozeduren. Seitdem feilen Beamte im Erziehungsministerium mit der Direktion in Dreiborn daran, den Verwaltungsapparat aufzubauen und nachvollziehbare, fachlich anerkannte Regeln für das Jungenheim sowie für die Unisec zu erstellen. So wurden dem Parlament Ergänzungen zum Gesetzentwurf vorgelegt, der den Betrieb der Geschlossenen regeln soll. Jugendliche müssen künftig vom Arzt untersucht werden, um sicherzustellen, dass sie eine Isolierung körperlich und mental durchstehen, ein Erzieher muss regelmäßig nach ihnen schauen. Auch in der Unisec gibt es eine Isolierzelle, mit weißen, dick gepolsterten Gummiwänden, einem Guckloch sowie einer Liege, damit sich Insassen nicht verletzen. Jugendliche müssen auch in der Unisec Fehlverhalten des Personals melden können.
Die Disziplinarmaßnahmen werden künftig in der Hausordnung geregelt. Erzieher können Jugendliche, die wiederholt gegen Regeln verstoßen, isolieren. Diese Isolierung soll von zehn auf maximal drei Tage heruntergesetzt werden. Allerdings hält die Sozialpädagogenplattform Ances dieses Maß noch für zu hoch, überhaupt überwögen disziplinarische Maßnahmen gegenüber erzieherischen, kritisierte sie in ihrem Gutachten und verwies auf Empfehlungen des Europarates zum Umgang mit delinquenten Jugendlichen. Besonderes Kopfzerbrechen bereitete den Beamten indes das pädagogische Konzept für die Geschlossene. Eigentlich hatte Direktor Fernand Boewinger ein solches für 2012 versprochen. Doch daraus wurde nichts. Nun soll eine individualisierte Betreuung erfolgen. Bei seiner Einweisung bekommt jeder Jugendliche einen individuellen Hilfeplan zu Resozialisierung. Er soll helfen, auf den Hintergrund, die Bedürfnisse und die Entwicklung eines Jugendlichen einzugehen. Es gibt jedoch einen Haken: So lange unklar ist, wer in Dreiborn aufgenommen wird, ob Intensivtäter, notorische Schulschwänzer oder Drogenabhängige, so lange wird auch das therapeutisch-erzieherische Konzept mit einer gewissen Unsicherheit behaftet sein. Das Ministerium hat eine Wunschliste erstellt: Neben den 28 Wärtern, die die neun Jungen und drei Mädchen rund um die Uhr überwachen sollen, werden sich zwölf Erzieher, ein Ergotherapeut, ein Psychologe auf 30-Stunden-Basis sowie ein Psychiater (zehn Stunden die Woche) um die Jugendlichen kümmern.
Sie sollen helfen, den Tagesablauf der Insassen in den vier Wohneinheiten zu strukturieren, vom Aufstehen über Therapie bis zum Sport. Schule und Ausbildung werden, anders als im Jungenheim gegenüber, nur innerhalb der Mauern stattfinden, das heißt: in eigens gebauten Klassenräumen und Ateliers, unter ständiger Beobachtung. Auch Basketballspielen oder Turnen wird unter den strengen Augen von Wächtern geschehen. Aus der Unisec kommt niemand ohne Schlüssel. Die Betriebskosten schätzt das Ministerium auf 4,5 bis fünf Millionen Euro, davon machen Personalkosten mit vier Millionen den größten Batzen aus. Damit kostet der Betreuungsplatz eines Jugendlichen mehr als 31 000 Euro – im Monat. Erstaunlich, dass da keiner Fragen stellt. Die Wächter stammen aus dem Erwachsenengefängnis Schrassig. Auf Anregung des CELPL werden sie in Deeskalation und Konfliktbewältigung geschult. Im Rahmen einer Strafvollzugsreform war zudem vorgesehen, dass Wärter stärker in Betreuungsaufgaben eingebunden würden. Doch die Strafvollzugsreform lässt, wie die Jugendschutzreform, auf sich warten. Die Leidtragenden sind die Insassen.
Im Falle der Jugendlichen wiegt das besonders schwer: Seit über 20 Jahren ist die Rede davon, Intensiv- und Mehrfachtäter in einer geschlossenen Unterbringung enger zu begleiten und so, hoffentlich, stabilisierend auf sie einwirken zu können. Doch das Vorhaben stand von Anfang an unter einem schlechten Stern: Zunächst wollte keine Gemeinde die schwierigen Jugendlichen aufnehmen. Bloß keinen Jugendknast. Schließlich erklärte sich die Gemeinde Wormeldingen nach jahrelangen Verhandlungen bereit; auf dem Grundstück des Jungenheims. Dann war nicht mehr klar, ob der Bau tatsächlich die Dauermisere der Minderjährigen in Schrassig lösen würde. Mit dem grünen Justizminister wurde neue Hoffnung geschöpft. Es war seine Partei, Déi Gréng, die sich als erste für dezentrale Strukturen einsetzte und sich für eine „déjudiciarisation“ stark machte. Heute ist von dem Engagement nicht mehr viel zu sehen: Eine grüne Arbeitsgruppe zum Jugendschutz gibt es nicht, der Generalsekretär kann keine Details sagen.
Auch die anderen Parteien äußern sich nicht. Damit aber steckt die Debatte über delinquente Jugendliche fest: Während in anderen Ländern kontrovers über Sinn und Unsinn von geschlossenen Einrichtungen (deren Betrieb wegen der Sicherheitsmaßnahmen sehr teuer ist) diskutiert wird, besteht unter Fachleuten kaum ein Zweifel daran, dass bei manchen jugendlichen Intensivtätern Erziehungsmaßnahmen allein nicht ausreichen. In Deutschland führte die Erkenntnis dazu, ein Jugendstrafrecht einzuführen. Damit sollte klarer zwischen Strafen und Erziehungsmaßnahmen unterschieden werden.
In Belgien und in Luxemburg entschied man sich, den Jugendschutzgedanken in den Mittelpunkt zu stellen. Was in den 1990-ern progressiv war, ist es womöglich heute nicht mehr: Jugendliche werden hierzulande viel öfter als in anderen EU-Ländern per Gerichtsbeschluss in einem Erziehungsheim zwangsplatziert. Obwohl Psychologen, Pädagogen, Kinderrechtler und Kriminologen seit Jahren vor der damit verbundenen Stigmatisierung warnen, hat sich durch das Jugendhilfegesetz nicht viel am enormen Einfluss der Justiz auf die (Re-)Sozialisierung schwer erziehbarer Kinder und Jugendlicher geändert. Vielmehr sieht es so aus, als würde unter dem Deckmantel, Jugendliche vor sich und anderen zu schützen, in Wirklichkeit oftmals eine Bestrafung stattfinden. Umso wichtiger wäre eine unabhängige Untersuchung über punitive Effekte des Jugendschutzes; sie fehlt aber bis heute. Es sind diese Unschärfen, die dazu führten, dass sich die Stimmen mehrten, die das Jugendschutzgesetz kritisch hinterfragten. Sie warten bis heute auf eine Reform.