In Wiltz, der Hauptstadt der Ardennen, stehen große Veränderungen an. Wohin die Reise geht, ist noch ungewiss

Aufbruchsstimmung

d'Lëtzebuerger Land vom 26.05.2011

„3,2,1,“ – mit einem Countdown ­waren die Wiltzer eingeladen, am heutigen Freitag die neuen Terrassendecks und Blumenbeete in der Grand-Rue und der Rue des tondeurs einzuweihen. Ein Zeichen dafür, dass in Wiltz Aufbruchsstimmung herrscht? Die neuen Decks, die verhindern, dass Restaurant- und Gaststättenbesuchern in der Hanglage der Wiltzer Geschäftsstraßen das Bier vom Tisch rutscht, sind das erste konkrete Resultat des City-Managements, mit dem die Stadtverwaltung vergangenes Jahr das Marketing-Büro Exxus beauftragte. Decks und Mobiliar gehören der Stadt Wiltz. Sie baut die Terrassen Anfang April auf und Ende Oktober wieder ab, erklärt Bürgermeister Frank Arndt (LSAP). Das Mobiliar leasen die Gaststättenbesitzer von der Gemeinde.

Doch auch die neuen Decks können nicht davon ablenken: Viele der Vitrinen im Oberwiltzer Geschäftsviertel sind zugeklebt, an den Fassaden reihen sich Verkaufs- oder Vermietungsschilder, und einer der letzten verbleibenden Konfektionsläden bietet wegen Geschäftsauflösung die nicht mehr ganz so fesche Ware zum Ausverkauf an.

Dass das Geschäftsleben nicht mehr rund läuft in Wiltz, darüber sind sich Vertreter von LSAP, CSV und DP, den Parteien, die augenblicklich im Gemeinderat vertreten sind – und die im Herbst zur Wahl antreten –, einig. Voran es liegt und was dagegen zu tun ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Da ist einerseits die Desindustrialisierung. Seitdem in den Neunzigern der Bodenbelaghersteller Tarkett/Eurofloor den Umzug nach Eselborn-Lentzweiler beschloss, bleibt der Stadt, einst Standort der Lederherstellung im Ösling, wenig Industrie, die Passantenverkehr in die Wiltzer Hotels, Restaurants und Geschäfte leiten würde. Und da ist andererseits die Shopping Mall im Pommerloch, fünf Autominuten von Wiltz entfernt, mit 1 200 Parkplätzen vor der Tür, wo sich die Kunden keinen Hang hinauf oder hinab mühen müssen, um vom Supermarkt zum Ableger der globalen Billigklamottenkette zu gehen.

„Die Geschäfte dort sind eigentlich keine Konkurrenz für den Qualitätseinzelhandel in der Stadt“, sagt Bürgermeister Arndt. Und gut ­geführte Geschäfte funktionieren auch in Wiltz, meinen er und andere Beobachter. Wie zum Beispiel das Fachgeschäft für Kleiderübergrößen, in das Kundschaft aus dem ganzen Ösling ströme. Oft gebe es allerdings auch für gut gehende Läden keine Nachfolger, meinen die Gemeinderäte Jos Schneider und Jean Jacquemart (beide DP). „Es fehlt es an der Kaufkraft“, lautet ihre Analyse. Die Arbeitslosenrate lag 2009 mit fast zehn Prozent deutlich über der Erwerbslosenrate in den Anrainergemeinden. Die niedrigen Lebenshaltungskosten zögen Rentner aus dem Süden nach Wiltz, beobachten die DP-Vertreter, weil sie dort 200 bis 300 Euro Miete monatlich sparen könnten. „Es ist ja nicht so, als ob wir etwas gegen die Leute aus dem Süden hätten“, unterstreicht Schneider. Doch Geld in die Kassen der lokalen Geschäftsleute brächten sie nur wenig, geben die Parteikollegen zu bedenken.

Zudem steige die Anzahl der Empfänger des Garantierten Mindesteinkommens (RMG) in Wiltz, geben andere Beobachter zu Protokoll. Laut Nationalem Solidaritätsfonds beziehen 151 Haushalte in Wiltz das RMG, rund 390 Personen insgesamt leben davon, nur 2,17 Prozent der 8 810 Haushalte, die in Luxemburg das Mindesteinkommen beziehen. Vielleicht ist es eher eine Frage der Proportionen. Die Ardennenstadt zählt aktuell 5 038 Einwohner. Zum Vergleich: Die Südgemeinde Sassenheim zählt 164 RMG-Haushalte bei 14 708 Einwohnern.

Dass das Innenministerium die Staffelung des Wasserpreises gekippt hat, die der Gemeinderat beschlossen hatte und die den finanziell schwächer gestellten Haushalten entgegengekommen wäre, fuchst Bürgermeister Arndt besonders. Die vorgesehene Staffelung, erklärt Arndt, hätte denjenigen, die wenig Wasser verbrauchen, eine entsprechend kleinere Rechnung beschert. Nun aber müssen die Leute Anträge für Ausgleichszahlungen stellen, 70 000 Euro sind dafür im Gemeindehaushalt vorgesehen; „die werden sicherlich in Anspruch genommen“, so Arndt. „Wir hätten den Leuten gerne erspart, sich anstellen zu müssen“, fügt er hinzu.

Zum Wiederbelebungskonzept des Kerns von Oberwiltz gehört nach Vorstellung des Gemeinderats auch dessen Umwandlung in eine Shared-Space-Zone. Einen Stadtkern also, in dem es keine reservierten Fahrstreifen für Fahrzeuge oder Gehwege für Fußgänger gibt, in dem also jeder auf jeden Rücksicht nehmen müsse. Die Reklassierung der Grand-Rue, auf der es trotz der neuen Terrassen noch ein wenig wie auf einer Autobahn zugeht, von der nationalen zur kommunalen Straße ist bereits beantragt. Doch weil dazu im Parlament ein Gesetz gestimmt werden muss, macht sich Arndt keine Illusionen darüber, dass dies zügig vorangehen wird. „Unsere Aufgabe als Gemeinde ist es, dafür zu sorgen, dass die Infrastruktur attraktiv ist“, fasst er zusammen. Dazu gehört für DP-Rat Schneider auch ein Parkhaus unterhalb des Schlosses. Zwar finde man im kommunalen Parkhaus unterhalb des Supermarktes in der Ortsmitte eigentlich immer freie Stellen. Das liege aber vor allem daran, dass das Parkhaus den meisten Leuten, drinnen zu eng sei, um es zu nutzen. „Wir wollen außerdem ein Inventar der schützenswerten Gebäude und Fassaden aufstellen lassen“, sagt er. Damit die Sicht aus Niederwiltz in den Hang –„eine der meistfotografierten der Stadt“ – erhalten bleibe, erklärt er, und das Stadtbild auch für Besucher von außerhalb attraktiv bleibe.

Für Carlo Schon (CSV), der sich dieses Jahr zum ersten Mal zur Wahl stellt, muss zu allererst ein Gesamtkonzept für die Entwicklung der Stadt herbei. Dazu gehört an erster Stelle auch die Zukunft des Wiltzer Schlosses, so die parteiübergreifend vorherrschende Meinung. „Das Schloss muss im Bereich des Stadthauses zum zentralen Anziehungspunkt werden“, sagt Arndt. Servior und Hëllef Doheem sind ausgezogen oder sind dabei, vollkommen leer steht es deswegen aber nicht. Das Synicat d’initiatives, die Pfandfinder und die Organisatoren des Wiltzer Festivals nutzen hier Büros, die Museen der Ardennenschlacht und der Braukunst Ausstellungsflächen. Der Besitzer Staat wollte das Schloss verkaufen, rückte wegen des lokalen Widerstands von diesem Vorhaben ab und beschloss stattdessen, via öffentliche Ausschreibung einen neuen Betreiber zu suchen.

Das war vor einem Jahr. Zwei Interessenten meldeten sich; eine lokale Initiative und ein Hotelbetreiber aus der Hauptstadt. Seither gibt es offiziell keine Bewegung im Dossier. „Ein Hotel würde passen“, sagt Arndt. Denn seit das Beau Séjour in Niederwiltz den Betrieb eingestellt habe, gebe es nur zwei Hotels in der Stadt. „Ein Wellness-Hotel“ kann sich auch DP-Rat Schneider vorstellen, obwohl die Anciennes Tanneries in Niederwiltz erst kürzlich mit Unterstützung der staatlichen Förderbank SNCI den eigenen Wellness-Bereich ausgebaut haben. „Oder dass man das Musikmuseum ins Schloss verlegt und dann dafür sorgt, dass die Öffnungszeiten aller drei Museen ausgeweitet werden“, schlägt er eine weitere Möglichkeit vor. Für Politikneuling Schon, der sich aus Rücksicht auf die Parteikollegen und mangels definitiver Kandidatenliste und damit mangels Wahlprogramms nur vorsichtig äußern will, ist wiederum wichtig, dass man sich überlegt, wie die Entwicklung des Schlosses mit der Entwicklung des ehemaligen Industriegeländes im Tal koordiniert werden kann.

Vom Gelingen dieses Projektes, meinen manche, hänge die Zukunft der Stadt ab. Insgesamt 14 Hektar groß ist das Gelände, Fußballfelder der Stadtverwaltung inklusive, auf dem in Bahnhofsnähe ein neuer Stadtteil entstehen soll. Zuständig ist der Fonds du Logement, und der Druck, das Projekt voranzutreiben, sei von allen Seiten enorm, sagt dessen Direktor Daniel Miltgen. Insgesamt 720 Wohnungen und 450 Arbeitsplätze sollen hier in drei Bauphasen entstehen. Dazu wird der Baubestand abgerissen und das Gelände saniert. Einen Zeitplan gibt es dafür noch nicht. Und wer wie viel zu der auf 30 Millionen Euro geschätzte Sanierung beitragen muss, darüber werde derzeit noch verhandelt. Tarkett wolle für die von der Firma verursachte Verschmutzung zahlen, erklärt Arndt die Situation, doch die Firma sei nur dafür nur teilweise verantwortlich. Entlang der Wiltz waren lange vor den Bodenbelagherstellern die Ledergerbereien angesiedelt. Weil die aber nicht mehr bestehen, muss für deren Altlasten die öffentliche Hand aufkommen.

Dass sich durch die Erschließung der Industriebrachen eines der dringendsten Probleme der Gemeinde lösen wird, nämlich die Baulandnot, glauben allerdings nur die Optimisten. Die Baulandproblematik steht bei allen Parteien, die im Herbst zur Wahl antreten, ganz weit oben auf der Agenda. „Es gibt viel zu wenig verfügbares Bauland in privater Hand“, sagt Arndt. „In den vergangenen 15 Jahren ist kaum noch Bauland erschlossen worden“, kritisiert Schon. „Das ist unsere oberste Priorität“, beharrt Schneider. Weil dem so ist, darin sind sich alle Beobachter einig, kann manches Potenzial, das es in Wiltz gibt, nicht ausgeschöpft werden. Die zahlungskräftigen und gut ausgebildeten Sekundarschullehrer aus dem Lycée du Nord, die Lehrer aus der Grundschule, in der 650 Schüler lernen, die Ärzte und das Personal aus dem Spital; alle seien sie in die Nachbargemeinden gezogen, wo sie „standesgemäße“ Grundstücke erworben hätten, mit Vor- und Gemüsegarten – in Wiltz, wo laut Observatoire de l’habitat vergangenes Jahr genau zwei neue Wohnungen verkauft wurden, sei da dem Vernehmen nach, ein Ding der Unmöglichkeit. Dass Bessergestellte auf das ehemalige Industriegelände ziehen könnten, das glauben die DP-Räte Schneider und Jacquemart nicht, auch dort würden sie nicht die Grundstücke finden, die sie suchen.

Dabei habe Wiltz einiges an Lebensqualität zu bieten, meint Herbert Maly von der sozio-kulturellen Genossenschaft Cooperations, die neben vielen anderen Projekten das regionale Kulturzentrum Prabbeli betreibt. Dazu zählt er sowohl die Einkaufsmöglichkeiten in Wiltz wie im Pommerlach, die Schulen, als auch das gastronomische Angebot. In das Spital, das mit dem Ettelbrücker Krankenhaus fusioniert hat, wurden bereits elf Millionen Euro investiert, weitere 25 Millionen Investitionen in die Maison des soins werden folgen. Zwar wird die Entbindungsstation geschlossen – „damit sie gut funktionieren kann, braucht man 700 Geburten jährlich, und wir haben hier nur noch 200“, sagt Arndt –, doch das medizinische Angebot bleibt ziemlich vollständig. Berücksichtigt man das kulturelle Angebot, den Bahnhof kann das Leben in den umliegenden Dörfern, dort wo Lehrer und Mediziner hinziehen, eigentlich nicht wesentlich besser sein.

Nachdem Wiltz in den Neunzigern vor allem mit Negativschlagzeilen über die Flüchtlings- und Ausländersituation in der Stadt auf sich aufmerksam machte, wird der hohe Ausländeranteil von 48 Prozent nicht zuletzt vom Bürgermeister selbst als Chance verstanden. „In meiner Nachbarschaft, sind es die Nicht-Luxemburger, die im Vorgarten sitzen, sich unterhalten und deren Kinder auf der Straße spielen, während die Luxemburger hinter dem Haus sitzen“, so Arndts Beispiel. „Das Zusammenleben funktioniert eigentlich ganz gut“, meint er. „In der Schule gibt es wirklich große Bemühungen, diese kulturelle Vielfalt als Chance für ein gemeinsames Weiterkommen zu nutzen. Dort findet Integration statt“, sagt Maly, selbst Wiltzer und Nicht-Luxemburger. Dass eine gewisse Aufbruchstimmung und ein neues Selbstverständnis langsam aufkämen, die Überlegungen „das sind wir und da wollen wir hin“, stattfinden, glaubt Maly auch daran zu erkennen, wie sich die Wiltzer zum Widerstand gegen den Verkauf des Schlosses zusammengefunden hätten.

„Wir sind die Hauptstadt der Ardennen“, sagen Arndt und Schneider unabhängig voneinander. „Und die Pfadfinderhauptstadt.“ Doch was das für die Zukunft bedeutet, muss erst neu definiert werden. Der Entwicklung des Schlosses und der Industriebrachen werden dabei zentrale Rollen zukommen. Beides sind Projekte, bei denen die Entscheidungshoheit entweder direkt oder über den Umweg des Fonds du Logement beim Staat liegt, nicht bei der Stadtverwaltung. Lässt der die Projekte schleifen, nimmt er den Wiltzern auch die Gelegenheit, die Zukunft zielstrebig anzugehen.

Michèle Sinner
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