In den Neunzigerjahren war viel von „Wasserstoffautos“ die Rede. Große Hersteller hatten sich zu Konsortien zusammengetan, um Brennstoffzellen-Antriebe zu entwickeln. Das sorgte für viel öffentliche Aufmerksamkeit. Eine Technologie, bei der Wasserstoff „kalt“ verbrannt wird und als Abgas nur Wasserdampf anfällt, klang ein wenig wie Sciencefiction. Und tatsächlich sind Brennstoffzellen Weltraumtechnologie: In den Sechzigerjahren hatte die Nasa sie in Apollo-Raumschiffen und Gemini-Sonden einzubauen begonnen.
Dagegen sieht die am Montag von Energieminister Claude Turmes (Grüne) vorgestellte Stratégie hydrogène du Luxembourg weniger spektakulär aus, obwohl sie in Wirklichkeit viel weiter reicht. Um Autos geht es darin nicht in erster Linie, schon gar nicht um Brennstoffzellen-PKWs. Die dienen sogar als Beispiel, um zu zeigen, dass der breite Einsatz solcher Autos Unsinn sei: Wird Wasserstoff durch Elektrolyse von Wasser gewonnen, wozu Strom dient, und in der Brennstoffzelle anschließend aus dem Wasserstoff wieder Strom erzeugt, sei es schlauer, mit dem Strom gleich Batterieautos aufzuladen. Von 100 Kilowattstunden Strom nutze ein Batterieauto am Ende 80 zum Fahren, ein Brennstoffzellenauto nur 40.
Doch eigentlich soll das in der Strategie nur illustrieren, wieso es wichtig ist, sich darüber klar zu werden, was man mit Wasserstoff und einer „Wasserstoffwirtschaft“ will. Was das Energieministerium auf 30 Seiten niedergeschrieben hat, ist das bisher vielleicht größte politische Bekenntnis einer Luxemburger Regierung zu einer CO2-Reduktion mittels neuer Technolo-
gien. Spätestens bis 2050, wenn die gesamte EU „CO2-neutral“ sein soll, aber auch schon vorher. Denn die Wasserstoffwirtschaft ist ein Riesenvorhaben. So riesig, dass es allein deshalb an Sciencefiction grenzt.
Man sieht das schon an den Zahlen für Luxemburg: Zurzeit würden hierzulande pro Jahr 450 Tonnen Wasserstoff genutzt, in erster Linie in den drei Industriebetrieben Luxguard, Ceratizit und Ceratungsten. Dort dient Wasserstoff als eine Zutat zu den Produktionsprozessen. Bis 2050, schätzt das Energieministerium, könne der Bedarf auf 125 000 und 300 000 Tonnen steigen. In Energie ausgedrückt, wären das zwischen vier und zehn Terawattstunden. Der Luxemburger Gesamtenergieverbrauch lag 2019 bei 51 Terawattstunden. Von dem, was 2050 an Verbrauch angenommen wird, sollen 20 bis 30 Prozent durch Wasserstoffnutzung ersetzt werden. Der andere, größere Teil durch Elektrizität. Durch grünen Strom natürlich, alles andere wäre nicht CO2-neutral. Und auch der Wasserstoff soll „grün“ sein. Beim heutigen Stand der Technik geht das nur, wenn grüner Strom zur Wasserstoff-Elektrolyse genommen wird.
Doch damit fangen die Probleme an, nicht nur in Luxemburg. Die Wasserstoffwirtschaft ist ein EU-Vorhaben. Und eigentlich ein weltweites, zumindest jener Länder, die sich das leisten können. Sie alle wollen Industrie, Transport und Energieversorgung CO2-neutral machen, wenn nicht mit Strom, dann mit Wasserstoff. Deutschland will „weltführend“ in Wasserstoffanwendungen werden, steht in seiner vor einem Jahr verfassten Wasserstoff-Strategie zu lesen. Doch nicht nur Deutschland geht davon aus, seinen Bedarf an „grünem“ Wasserstoff nicht aus Eigenproduktion decken zu können. Wie die EU-Kommission die Sache sieht, wird die ganze EU zum Importeur werden. Luxemburg natürlich auch. „Wir werden massivst an erneuerbarer Stromversorgung hinzubauen müssen“, rief Claude Turmes am Montag in den Versammlungssaal mit besonderer Betonung des Superlativs auf massiv, und wissend, dass Luxemburg nicht mal seinen Strombedarf aus Eigenproduktion wird decken können, geschweige den Extrabedarf zur Elektrolyse grünen Wasserstoffs.
Woher den Stoff dann nehmen? Denn offenbar kommt man nicht vorbei an ihm. Ersetzen soll Wasserstoff Öl, Gas und Kohle überall dort, wo das durch Strom nicht gut geht. Zum Beispiel in Industrieprozessen, wo schnell sehr hohe Temperaturen erreicht werden müssen: in der Stahlindustrie, der Glas- oder der Zementherstellung zum Beispiel. Weil das Sektoren sind, die auch hierzulande ihren Sitz haben, steht in der Stratégie hydrogène der Einsatzfall in der Industrie an vorderster Stelle. Es folgt der Transportbereich: LKWs, Schiffe und Flugzeuge. Und die Energienetze der Zukunft, in denen Wasserstoff als Speicher dienen könnte: Ist der Strombedarf im Netz klein, könnte in der Zeit aus einem Strom-Überschuss Wasserstoff hergestellt werden. Der wiederum würde bei hohem Bedarf in Brennstoffzellen wieder zu Strom gemacht.
Energieminister Turmes sieht in der Wasserstoff-Versorgung Luxemburgs kein sehr großes Problem: Der Bedarf hierzulande sei so klein, dass in einem EU-System immer genug Wassersoff für Luxemburg abfalle – auch von dem „grünen“. Dieser soll ab 2030 ausschließlich genutzt werden, der Bedarf werde dann vielleicht doppelt so hoch sein wie 2020. Doch das sind Schätzungen. Eine genauere Bedarfsstudie soll in den nächsten zwölf Monaten angefertigt werden. Denn immerhin: Was das Energieministerium für 2050 veranschlagt hat, ist mit dem Maximum von zehn Terawattstunden nur elf Mal kleiner als das Maximum, mit dem Deutschland für sich rechnet. Da fragt sich schon, ob die Schätzung für einen 800 000- bis Eine-Million-Einwohnerstaat auch mit Industrie und Cargo-Airline nicht zu hoch gegriffen wäre.
Denn die Visionen von weltweiten Wasserstoff-Lieferketten sind so kühn, dass sie entweder an einen Riesenaufwand denken lassen, oder an einen großen Carbon footprint. Die deutsche Wasserstoff-Strategie zum Beispiel spricht davon, grün hergestelltes Hydrogen aus Chile oder gar Australien könne per Schiff angeliefert werden. Doch Wasserstoff werde eine zu einer globalen Unternehmung, sagt – Frank Engel. Der aus seiner Partei hinausgemobbte Ex-CSV-Präsident hat seine Ankündigung wahrgemacht, im Wasserstoffbereich tätig zu werden. Er ist designiertes Mitglied des Direktoriums von Hydrogen Europe, dem Dachverband an Wasserstoff interessierter Industrien, Energieversorger und Organisationen in Europa. Engel berichtet, Australien und Indonesien hätten unlängst den Bau einer 4 500 Kilometer langen Pipeline vereinbart. Durch sie soll grüner Wasserstoff fließen. In solch großen Dimensionen müsse man sich die Zukunft vorstellen.
Um die Bemühungen hierzulande in die richtigen Bahnen zu lenken, soll eine Wasserstoff-Taskforce eingerichtet werden, mit einem Steuerungs-Komitee aus Ministerialbeamten an der Spitze und drei thematischen Expertengruppen weiter unten. Für die „Logistik“ soll es kurzfristig einen Extra-Ausschuss geben, der festlegen soll, was LKWs, Flugzeuge und Flussschiffe brauchen könnten. Vielleicht Wasserstoff – LKW-Hersteller arbeiten schon daran, in Dieselmotoren Wasserstoff einfach verbrennen zu lassen und Brennstoffzellen zu umgehen –, vielleicht synthetischen Sprit. Und für Flugzeuge synthetisches Kerosin? Was sich mobilisieren lässt, um den Luxemburger Energieverbrauch auf zero carbon zu bringen, soll mobilisiert werden.
Politisch diskutiert wurde über Wasserstoff und Wasserstoffwirtschaft hierzulande bisher wenig, und wenn, vor allem um Autos. Weil Luxemburg die höchste Pro-Kopf-Motorisierung der EU hat, überrascht das nicht. Abgeordnete der CSV wie Martine Hansen oder Paul Galles sorgten sich, dass dem Autovolk eine Batterieauto-Zukunft aufgezwungen würde.
Hinzu kam dieses Jahr eine Diskussion zwischen dem Energieminister und dem Industriellenverband Fedil. Der Fedil ist Claude Turmes’ Wasserstoff-Strategie zu grün. Das fand sie schon Anfang des Jahres, als der Energieminister an interessierte Kreise einen Entwurf der Strategie verteilt hatte. Weil er dabei geblieben ist, dass in Luxemburg spätestens 2030 nur noch „grüner“ Wasserstoff zum Einsatz kommen soll, ist das der Fedil nach wie vor nicht pragmatisch genug.
„Nur zwei Prozent des in der EU produzierten Wasserstoffs sind heute grün. Und sehr teuer“, sagt Gaston Trauffler, Chef des Bereichs Industriepolitik bei der Fedil. Übergangsweise müsse es auch möglich sein, „anderen“ Wasserstoff zu verwenden. Immerhin sehe das auch die EU-Kommission so. Tatsächlich schreibt die Kommission ihrem im Juli vorgestellten Klimapaket „Fit for 55“, bis 2030 es reiche schon, wenn ein Teilnehmer an der Wasserstoffwirtschaft mindestens die Hälfte seines Verbrauchs aus grünem Wasserstoff deckt. Luxemburg will bis dahin auf hundert Prozent kommen. Trauffler setzt noch einen Punkt: Auch in den Stromnetzen sei noch längst nicht jedes Elektron grün. „Trotzdem wird seit Jahren die Elektromobilität gefördert.“ Dasselbe sollte auch beim Wasserstoff möglich sein.
Darum scheint es vor allem zu gehen: maximale Flexibilität und Fördermöglichkeiten. Zurzeit wird Wasserstoff vor allem aus fossilen Quellen gewonnen. „Grauer Wasserstoff“ entsteht per Dampfreformierung, wenn Erdgas unter Hitze in Wasserstoff und CO2 umgewandelt wird. Die zurzeit in Luxemburg verbrauchten 450 Tonnen im Jahr kommen aus diesem Verfahren. Andere Methoden, die mittlerweile mit eigenen Farb-Labels versehen wurden, sind noch eher theoretisch. Etwa „blauer Wasserstoff“, für dessen Herstellung das bei der Dampfreformierung anfallende CO2 in den Boden gepresst würde. Politisch besonders heiß ist die „rote“ Variante: Dabei würde zur Elektrolyse Atomstrom benutzt. Vor allem die französische Regierung setzt sich dafür ein, dass dieser Wasserstoff in der EU als „low carbon“ anerkannt werde.
Am Ende steckt hinter Claude Turmes Insistieren auf „grün“ vielleicht nicht mehr als die Luxemburger Ablehnung von Atomstrom. Und der Energieminister möchte als Grüner zumindest das als Konsens erhalten wissen, wenn er sich andererseits immer wieder so verstehen lässt, als sei dem Klimawandel bereits mit der richtigen Technologie beizukommen. Für die Wünsche des Industriellenverbands scheint Turmes nicht unsensibel zu sein. Am Montag erklärte er, „gemeinsam mit der Fedil“ setze er sich bei der Generaldirektion Wettbewerb der EU-Kommission dafür ein, dass bei Wasserstoffprojekten ausnahmsweise nicht nur die Investitionen, sondern auch die operationellen Kosten bezuschusst werden dürfen (wofür andere Industrieverbände ebenfalls Lobbyarbeit machen). Käme es dazu, wäre es natürlich ein großer Anreiz, diese Technologien zu nutzen.
Derweil setzt die Regierung aber nicht nur mit dem Energieminister darauf, dass Luxemburg in einer aufkommenden EU-Wasserstoffwirtschaft schon irgendwie mit bedient werde. Das Kooperationsministerium will sondieren, ob die Kapverden sich als Produktionsstandort und Exporteur von grünem Wasserstoff eignen könnten. Was sich vielleicht als schlaue Idee erweisen könnte: Experten halten ganz Afrika für gut zur Wasserstoffproduktion, verweisen aber auf die politische Lage und dass die Energiewünsche aus dem reichen Europa nicht zu Energie-Kolonialismus führen dürften. Wahrscheinlich sind solche Risiko auf den Kapverden eher klein. Die Beziehungen mit Luxemburg sind gut, Wasserstoff-Projekte könnten so aufgebaut werden, dass die Kapverden daraus Vorteil ziehen, und der Inselstaat liegt weit entfernt von Kriegsschauplätzen in Westafrika.