Kälte bringt Techniker ins Schwitzen. Wer es warm haben will, kann einfach ein Feuer anzünden und für die Abgase einen Kamin bauen. Kühlung ist deutlich komplizierter: Ventilatoren aufhängen? Die sind laut und verbreiten Zugluft oder gar Keime. Klimaanlagen? Die brummenden Stromfresser entfeuchten zwar die Luft, heizen aber mit ihrer Abwärme versiegelte Innenstädte erst recht auf. Heizkörper im Sommer mit Eiswasser füllen? Im Prinzip möglich, würde aber die Wohnung mit Kondenstropfen überschwemmen.
Die Lösung, kaltes Wasser durch Rohre zu schicken, verbreitet sich tatsächlich. Für Fernkälte aus Kühlwerken können allerdings nicht einfach Fernwärmenetze und Heizanlagen umfunktioniert werden: Kälteleitungen müssen größer dimensioniert werden, außerdem wollen Küchen auch im Sommer Wärme, Computer auch im Winter Kühlung. Es braucht separate, gut voneinander isolierte Leitungen für beides, das ganze Jahr über.
In Hamburg werden die Bürohochhäuser der City Nord schon seit 1968 mit Fernkälte temperiert. Dieses Modell findet nun immer mehr Anhänger, denn Rechenzentren, Glasfassaden und Klimawandel treiben den Kühlbedarf in die Höhe. Gleichzeitig verringert die zunehmende Wärmedämmung von Gebäuden die Nachfrage nach Fernwärme, die von Fabriken oder Müllverbrennung oft im Überschuss abgegeben wird. Da ist es praktisch, dass Kühlwerke nicht nur mit Strom, sondern auch mit Wärme laufen können. Große Kältemaschinen sind auch meist effizienter als kleine Klimaanlagen.
Am meisten Strom lässt sich sparen, wenn natürliche Kälte zur Verfügung steht. Manche Brauereien bunkern schon seit Jahrhunderten im Winter Eis für den Sommer. Im schwedischen Sundsvall wird Schnee in einem Bassin eingelagert; das Schmelzwasser kühlt dann ein Krankenhaus. Stockholm hat seit 1994 das bislang weltgrößte Fernkältenetz aufgebaut: In einer Felsenkammer unter der Rathaus-Insel wird dafür kaltes Meerwasser gespeichert. Bei Bedarf werden zusätzlich Kältemaschinen mit der Abwärme von Kraftwerken betrieben – so gehen auch andere skandinavische Hauptstädte vor. Pläne, Eisberge aus Polarmeeren ins Arabische Meer oder wenigsten bis Südafrika zu schleppen, konnten dagegen noch nicht verwirklicht werden.
Im Vorteil ist, wer in Metrotunnels und begehbaren Abwasserschächten noch Platz für weitere Rohre hat: Paris verteilt Fernkälte über zwei insgesamt rund 100 Kilometer lange Netze. Tief unter dem Palais de Tokyo wird Wasser aus der Seine auf fünf Grad abgekühlt. Das Kühlwerk neben der Gare de Lyon ist gleichzeitig Notstromzentrale für den Louvre und andere große Verbraucher. Der Untergrund des Hochhausviertels La Défense ist ein gigantischer Kühlschrank: Auf drei Stockwerken mit 6 000 Quadratmetern wird dort in der Nacht, wenn der Strom billiger ist, Wasser eingefroren – tagsüber kann das Eis wieder aufgetaut und in das Fernkältenetz eingespeist werden.
Bei neuen Stadtvierteln lassen sich Kühlleitungen von Anfang an einbauen. Berlin zum Beispiel hat am Potsdamer Platz 14 Kilometer für rund 12 000 Büros und 1 000 Wohnungen verlegt. Umweltschützer sind darüber nur halb glücklich, denn die Kälte dafür wird vor allem mit der Abwärme von Kohlekraftwerken erzeugt. In Barcelona speisen unter dem neuen Finanzquartier 22@Barcelona drei Kühlmaschinen einen großen Eisspeicher.
Kopfzerbrechen bereitet dagegen die Erschließung von Altbauten. In Ulm und Stuttgart werden vorerst nur Gebäude in der Nähe der Universitäts-Heizwerke mit Fernkälte versorgt. Diese Rohre wollen die Stadtverwaltungen nicht verlängern, weil „im Straßenkörper eine weitere raumgreifende Sparte kaum unterzubringen“ sei. Immerhin betreiben Stadtwerke in Deutschland nun bereits Fernkältenetze, deren gesamte Kühlleistung in den letzten zehn Jahren von 160 auf über 250 Megawatt gestiegen ist (grob gerechnet, entspricht ein Megawatt der Leistung von 10 000 Haushaltskühlschränken).
München hat keine Scheu, bestehende Straßen aufzureißen: Von einer neuen Geothermie-Anlage in Sendling wird dieses Jahr eine fünf Kilometer lange Kälteleitung bis zu dem Innenstadt-Netz verlegt, das bereits 2011 beim Stadtgrabenbach tief unter dem Stachus begonnen wurde. Die Baustelle sei zwar lästig, meinen die Stadtwerke, mache aber andererseits viele Immobilienbesitzer auf Fernkälte erst aufmerksam. Paradoxerweise hilft eine Kälte-Anlage, im Winter den Busbetriebshof eisfrei zu halten. Außerhalb des Stadtzentrums werden einzelne Verbraucher, etwa das BMW-Forschungszentrum, mit Grundwasser aus U-Bahn-Dükern gekühlt. Der Ingenieur Patrick-Anastasios Krystallas hat für seine Dissertation ausgerechnet, dass Fernkälte unter Münchner Bedingungen im Vergleich zu einzelnen Klimaanlagen bis zu 70 Prozent weniger Energie verbraucht – und entsprechend CO2-Emissionen einspart.
Linz an der Donau hat gerade eine „Fernkälte-Offensive“ gestartet: Nach Kliniken, Brucknerhaus und Bürotürmen sollen künftig auch Wohnhäuser ferngekühlt werden. Besonders rabiat erweitert Wien sein 2006 gestartetes Kältenetz: Für 80 Millionen Euro soll bis 2025 die Kapazität von heute 130 auf 200 Megawatt ausgebaut werden. Dieses Frühjahr wurde am Stubenring die achtzehnte Kältezentrale Wiens eröffnet; die ganze Innenstadt kann jetzt mit Fernkälte versorgt werden. Im Winter kommt die Kühle aus dem Donaukanal, im Sommer aus der Müllverbrennungsanlage Spittelau, die der Künstler Friedensreich Hundertwasser gestaltet hat.
Noch umweltfreundlicher wäre es, Gebäude und Lebensstil so einzurichten, dass sie ohne aktive Kühlung auskommen. Inspirationen dafür könnten Gegenden liefern, die schon lange mit Hitze leben. Australische Termiten zum Beispiel errichten mit ausgeklügelter Belüftung meterhohe Lehmbauten, die der Sonne nur ihre Schmalseite darbieten. Oder vielleicht verschiebbare, für Wind durchlässige Papierwände wie bei Häusern im alten Japan? In Wirklichkeit geschieht genau das Gegenteil: Aufstrebende afrikanische Hauptstädte können gar nicht genug kriegen von Glas-Wolkenkratzern mit Klimaanlagen. Die Spanier werden allen Ernstes von ihrer Regierung ermahnt, nicht mehr im Schatten die Siesta zu verschlafen: Sie sollen wie die Deutschen auch in der prallen Mittagssonne fleißig sein. Über so viel Unvernunft könnte man sich wirklich echauffieren.
Kühle aus der Leitung
Für Fernwärme, oft ein Nebenprodukt von Stromerzeugung, Abfall- oder Klärschlamm-Verbrennung, wird heute meist nicht mehr Dampf, sondern über 80 Grad heißes Wasser in Rohrleitungen gepresst. In Anergie-Netzen, auch „kalte Fernwärme“ oder „kalte Nahwärme“ genannt, reicht dagegen schon Umgebungstemperatur: Aus zehn bis 25 Grad warmem Wasser lassen sich mit Wärmepumpen je nach Bedarf Wärme oder Kälte gewinnen. Wenn in einer Anlage gleichzeitig elektrische Energie, Wärme und Kälte erzeugt wird, nennt sich das Kraft-Wärme-Kälte-Kopplung.
Fernkälte funktioniert mit geschlossenen Wasserkreisläufen. In einer Kältezentrale wird Wasser abgekühlt, im Idealfall mit Strom aus erneuerbaren Energien oder mit natürlicher Kälte. Über Vorlauf-Rohre wird rund fünf Grad kaltes Wasser zu kleinen Übergabestationen gepumpt, etwa im Keller eines Hauses. Kunden können dort Kälte abnehmen und für eigene Kühlkreisläufe nutzen, zum Beispiel für Gebläsekonvektoren (Fan Coils) in ihren Räumen. Im Gegenzug geben die Verbraucher Wärme ab: Über Rücklauf-Rohre fließt rund 16 Grad warmes Wasser wieder zum Kühlwerk zurück. Wie Fernwärme wird auch Fernkälte oft über Contracting-Modelle verkauft.
Wasser setzt beim Verdunsten Kälte frei. Wie kleine Kühlschränke nutzen auch große Kühlwerke vor allem zwei Methoden: mit Strom betriebene Kompressoren und mit Wärme betriebene Absorber.
In Kompressionskältemaschinen verdampfen Kältemittel, dann erhöhen Kompressoren den Druck, die Kältemittel kondensieren wieder – bei diesem Kreislauf wird Wärme an die Umgebung abgegeben. Problematisch sind der hohe Stromverbrauch und explosive oder umweltschädliche Kältemittel, etwa Fluorkohlenwasserstoffe.
In Absorptionskältemaschinen ist Wasser das Kältemittel: Es verdampft und entzieht Wärme. Eine Lithiumbromid-Lösung, die bislang als unbedenklich gilt, absorbiert den Dampf. Mit Hilfe von Hitze, zum Beispiel überschüssiger Fernwärme, wird dann das Wasser wieder herausdestilliert.
Zu den Vorteilen von Fernkälte zählt neben Energieeinsparung und professioneller Wartung auch, dass die Verbraucher nicht selbst einen Rückkühler, also einen kleinen Kühlturm, aufstellen müssen: Heiße Abluft, Dunst und Lärm bleiben bei der Kältezentrale. Fassaden werden nicht mit Kühlgeräten verschandelt; Hausdächer können für Terrassen genutzt werden.
Ein Nachteil sind die nötigen Rohrleitungen: teuer, nicht überall möglich und von begrenzter Reichweite. Außerhalb kompakter Siedlungen sind kleine Klimaanlagen mit Strom vom Solardach günstiger. Die Abhängigkeit von einem zentralen Kühlwerk gefällt auch nicht allen: Da Fernkältenetze sich nur mit vielen Teilnehmern lohnen, gibt es oft lebhafte Diskussionen zum Anschluss- und Benutzungszwang.