Steckel, Margret: Auf Rufweite

Gretchen ist keine Siegerin

d'Lëtzebuerger Land vom 20.12.2007

Ist es ein Zufall, dass der Held einer Erzählung aus unserer Zeit ein Maler ist und zugleich einen Namen trägt, der an den frommem Nazarener-Maler Philipp Veit (1792-1877) erinnert: Philipp Voigt? Ja, genau das ist es, und wohl nicht mehr. Der Rezensent sucht hier Bedeutungen, wo keine zu finden sind und belästigt den Leser mit eigenen Assozia-tionen, die wenig dienlich sind. Oder? Na ja, da gibt es doch Parallelen, die sich „im Himmel natürlich“ treffen. Das „Objekt“ der großen Liebe der Ich-Erzählerin strahlt etwas überirdisch Begnadetes aus und erinnert in seiner naiven Unbefangenheit und Unbekümmertheit an die romantische Malerschule, welche die reli-giöse Welt der Vergangenheit neu beleben wollte, ohne zur Kenntnis zu nehmen, was Naturwissenschaft und Philologie inzwischen herausgefunden hatten. Muss ich hinzufügen, dass ich hier die Perspektive der Verliebten wiedergebe? Aus  ihrer Sicht spricht sie rückblickend den lange Verstorbenen an: „Du warst buchstäblich außerstande, Gemeinheiten wahrzunehmen. Häme und Bosheit, du bemerktest sie glattweg nicht, deshalb fielen deine Antworten stets unbefangen aus, meistens auch noch herzlich.“Doch der Maler leichten Sinnes ist nicht die Hauptfigur. Das ist die Ich-Erzählerin, die sich Knall und Fall in ihn auf eine Art verliebt, dass  sie dauernd droht Opfer eines totalen Selbstverlustes zu werden: „Gretchen ist keine Siegerin.“ Es ist schon interessant, dass die Protagonistin hier in martialischen Kategorien denkt, und eben doch wohl keine Frau sein will, die ziemlich schnell ihrer großen Liebe alles opfert, um dann mit Gretchen sagen zu können: „Seh’ ich dich, bester Mann, nur an,Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt;Ich habe schon so viel für dich getan, Daß mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt.“  Der coup de foudre hat etwas von einer Epiphanie. Und das ist es ja, was man allgemein unter Liebe versteht, dieses Überwältigtsein durch einen Menschen, dessen bloßer Anblick einem die Luft raubt. Bei mir als Leser entsteht eine Spannung dadurch, dass ich Angst um dieses Opfer einer Verliebtheit habe, die menschlich mehr und anders ist als eine verliebte kleine Gans. Wie kann man nur so seinen Kopf verlieren, geht es dem männlichen Leser durch den Sinn. Angst um ihre Identität, die sich aber vielleicht gar nicht bewahren, sondern aufgeben, auflösen und vergessen will. Vielleicht ist diese Angst aber bloß bedingt durch männliche Eifersucht auf Philipp Voigt. Doch die Protagonistin ist kein Gänslein. Philipps Verspieltheit kann sie durchaus ihre eigene entgegensetzen. Als er sie in München am Bahnhof ab­holt, versteckt er sich, indem er sich geschickt immer hinter ihr hält. Sie will ihm sein Nicht-da-Sein durch die Rückfahrt mit dem nächsten Zug heimzahlen. Als er dies vereitelt, dadurch, dass er nach ihrem Koffer greift, ist sie sauer. Einige Zeit später revanchiert sie sich und erweist sich als Sammlerin von Pilzen, die von der Wirtin nicht eindeutig als ungiftig akzeptiert werden, die sie aber seelenruhig vor Philipps bekümmerten Blicken verspeist. Und so geht das dann weiter. Die Alltagsweisheit des „Was sich liebt, das neckt sich“ würde diesem zuweilen grausamen Spiel nicht gerecht. Das gesunde Teufelchen der Selbstbehauptung ist es wohl auch, dass sie reitet, „den Frieden jener Tage zu stören“. Sie zieht Rudi, ihren vormaligen Freund, ins Spiel, da man ja weiß, wie sehr sich die Liebe von der Eifersucht nährt. Und so geht das, was ich hier nur an- und aufgerissen habe, über viele Seiten und Erfahrungen weiter in der Erinnerung einer übermächtig großen Liebe, die beide in die gefährlich schönen Gefilde der Selbstvergessenheit und des Selbstverlusts führt.  Wenn dann in  der Erinnerung negativ bilanziert und resümiert wird, dass durch Flucht in eine Ehe mit Dirk, einem „Ersatz“, – Never take second best, war Philipps Devise – vergeblich versucht wurde, wieder Anschluss an das Leben zu finden, entsteht ganz einfach große Literatur: „Schmerz als kürzeste Verbindung; eine Brücke, die es nicht mehr gibt, die mit der Zeit zerfiel. Der Platz auf Rufweite, auf dem sie nicht mehr stehen kann, um in ein Zwiegespräch zurückzufallen, das sie nie beenden wollte. Und kein Ersatz dafür. Es gibt niemanden, für den sie dasein müsste. Sie hat nichts in ihr Leben geholt, was das Leben ihr wieder hätte nehmen können. Sie ist unverwundbar geblieben, wie sie es gewollt hatte.“ Hieraus lässt sich schließen, dass das Trauma von Philipps Tod so verheerend war, dass sie die Erfahrung einer neuen Liebe um jeden Preis ausklammerte. Die junge Kriemhilde, der die Mutter Ute den Traum vom gewaltsamen Tod eines Falken als Warnung vor dem baldigen Tod ihres Künftigen deutet, lässt grüßen:„Es hat  an manchen Weiben / gelehrt der AugenscheinWie Liebe mit Leide / am Ende gerne lohnt;Ich will sie meiden beide/ so bleib ich sicher verschont.“ Die drohenden Schatten des frühen Todes von Philipp werden erst allmählich  wahrgenommen; und nach dem Tod des Geliebten bleibt ein schwarzes Loch zurück, das auch das Licht der Gegenwart aufsaugt, eine Trauer hinterlässt, die das Dasein des überlebenden Partners aushöhlt. Eine außergewöhnlich starke Leidensgeschichte infolge geteilter Leidenschaften bleibt es allemal. So stark, dass die Protagonistin noch viele Jahre später an dem Vulkanausbruch dieser Gefühle sich wärmt und gar verbrennt und an ihrem Ausbleiben in der Gegenwart erfriert. Ist es ein Wunder, dass der solchermaßen Geliebte noch nach 25 Jahren auf Rufweite der Liebenden lebt? So ist auch am Schluss der Erzählung die Andeutung einer Loslösung vom Toten durch eine Neubindung mit Berthold nichts anderes als ein faszinierend realistisches Fantasieprodukt der Ich-Erzählerin. Ein Qualitätsszeichen für Sprache ist meiner Erfahrung zufolge die Lust, die sie im Leser weckt, den Text vollständig in den Griff und unter den Begriff zu bekommen und zugleich das Scheitern dieses Versuchs. Mit dieser Erzählung liegt das Beste an Liebes- und Seelenerkundungen vor, was mir seit langem untergekommen ist. Das alles strahlt so viele erhellende Einsichten, soviel Wissen (Weisheit wäre als Begriff zu gesättigt und beruhigt), bunte Vielfalt und überraschende Lebendigkeit aus, dass es dem Leser oft den Atem verschlägt ob solcher Virtuosität. Als großartiges  Kabinettstück sticht die Vernissage hervor mit der gespannten Erwartung der Ich-Erzählerin bei der Rede des Kulturdezernenten auf die Bewertung „ihre(r) Zeit in Philipps Leben.“ Dann die schmerzhafte Abfuhr für die späte Liebe und ihre Auseinandersetzung damit. Ihre Liebe zu Philipp wird ein zweites Mal tödlich verletzt und überlebt dann doch in der Erinnerung an die Spanienreise mit den Passproblemen und der Wiederbelebung ihrer Konfrontation der Todesnachricht per Telefon. Margret Steckels Sprache ist derart dicht und reich, dass ich nicht nur aus jeder Seite, sondern aus jedem Abschnitt zitieren möchte. Dass ich das angesichts der begrenzten Wortzahl einer gängigen Rezension unterlasse, aber auch, um der Entdeckerfreude des Lesers nicht allen Wind aus den Segeln zu nehmen, ist verständlich. Und damit überlasse ich den Leser hoffentlich seiner Lust, nun selber in diesem erfrischenden Seelensee zu schwimmen, zu baden und zu tauchen.

Margret  Steckel:  Auf Rufweite; Op der Lay, Esch/Sauer 2007; ISBN: 978-2-87967-145-1

 

Jacques Wirion
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