Notizen zu Komplexität und Leichtfertigkeit

Von der Kunst, im Nebel zu stochern

Ohne Nebel geht im Leben gar nichts. Wieso also  den Nebel vertreiben?
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 14.02.2025

Ja, es ist immer wieder schön, wenn wir uns auch mit den unscheinbaren Dingen des Lebens ausgiebig beschäftigen. Wir werden ohnehin mit Schlagzeilen überfüttert. Stets orientieren wir uns am Sensationellen, Skandalösen, Katastrophalen und Hochdramatischen. Wir übersehen das Naheliegende. Zum Beispiel den Nebel. Dabei ist Nebel eine Erscheinung, die uns jahraus, jahrein mit großer Zuverlässigkeit begleitet. Dazu eine anschauliche Geschichte: Zum Jahreswechsel wurde in Zürich ein zauberhaftes Feuerwerk in den Himmel geschossen. Dummerweise herrschte ein undurchdringlich dichter Nebel. Die festlich gestimmten Feuerwerksgäste konnten nur ein diffuses Wetterleuchten irgendwo in der Nebelsuppe sehen. Trotzdem wurde zwanzig Minuten lang unbeirrt das gesamte Böllerpaket abgefeuert. So schnell lassen sich die Zürcher das Feiern nicht verderben. Schließlich ist nicht alle Tage Neujahr.

Was sollen wir von der Zürcher Feuerwerksvernebelung halten? Müssen wir sie überhaupt bewerten? Wir könnten ja kurzerhand antworten: Pech gehabt. Dumm gelaufen. Fog happens. Es gibt Schlimmeres. Wir hätten das Thema abgehakt und könnten zur Tagesordnung übergehen. Aber wäre eine derart knappe, fast schon schnippische und prekäre Einschätzung nicht ein Verstoß gegen das intellektuelle Diskussionsgebot? Müssten wir unsere Meinung nicht zumindest ausführlicher darlegen? Wie steht es denn mit der unverzichtbaren Nebelproblematisierung? Oder entziehen wir uns der herrschenden Streitkultur? Wollen wir lieber egozentrische Kleingeister bleiben, die nur ihren eigenen engen Horizont gelten lassen? Die Parole heißt doch: Alles immer wieder gründlich ausdiskutieren. Reden, reden, reden. Nur keine voreiligen Schlüsse ziehen. Alle Facetten berücksichtigen.

Machen wir uns das Leben nicht zu einfach. Seien wir nicht leichtfertig. Vermeiden wir die Ideologie der Eindeutigkeit. So locker einzuordnen ist der Zürcher Nebelvorfall nämlich nicht. Nebel ist wahrlich ein großer und vielschichtiger Debattenanlass. Er verdient eine differenzierte, austarierte, multidisziplinäre Beleuchtung. Und ein Bekenntnis zur Uneindeutigkeit (Wissenschaftler haben dafür die schöne Bezeichnung „Ambiguitätstoleranz“). Seien wir also uneindeutig tolerant und veranstalten wir eine Open-end-Diskussion. Der Nebel ist eine wunderbar uneindeutige Substanz. Wer über den Nebel spricht, hat ausgeprochen diverse und diffuse Kategorien zur Verfügung. Er muss sich nur dazu bequemen, eine Auswahl zu treffen: Nebelkapitalisierung: In Zürich residieren mehrere bedeutende Banken, die ihre Geschäfte ohnehin im Nebel abwickeln. Unerwartet auftretender Zusatznebel ist demnach immer willkommen. Aus dieser Zürich-typischen Nebelhartnäckigkeit lässt sich ohne weiteres eine fruchtbare Nebelkommerzialisierung ableiten. Eine gezielte Nebelintensivierung leistet dabei gute Dienste. „Besuchen Sie Zürich, die Welthauptstadt des Nebels“ (PR-Büro Zwielichter & Schwammig).

Nebelliquidierung: „Why do we have nukes, if we don’t use them?“, fragte Chefschwurbler Trump während seiner ersten Amtszeit. In der Tat: Warum äußerst kostspielige Atomwaffen horten, wenn man damit kein finales Feuerwerk veranstalten kann? Also rein in den Zürcher Nebel mit den Nukleargeschossen. Im Vergleich zur biederen Zürcher Feuerwerkskunst hätten Atombomben den Vorteil, nicht nur weitaus stärker zu leuchten, sondern auch flächendeckender das Publikum zu bedienen. Das Entzücken wäre beträchtlich. Mit Applaus wäre zwar nicht mehr zu rechnen. Denn die Zürcher würden abrupt mitsamt ihrer Stadt abgedankt haben. Auch die restliche Schweiz würde man nicht einmal mehr mit der Lupe ausfindig machen. Doch unter dem Strich hätte sich die Spezialoperation gelohnt: Der Nebel wäre weg. Die nebelfreie Zukunft wäre gesichert.

Nebelannektierung: „Amerika braucht unbedingt frischen Nebel. Den holen wir uns. Wir haben schon den grönländischen Nebel getestet (sehr verlockend). Und den panamaischen (etwas chinesisch angehaucht). Und den kanadischen (ziemlich eisig). Der Zürcher Nebel aber hat Premium-Qualität. Genuines Alpen-Label, dauerhaft resistent. Wir schicken unsere Luftwaffe mit Containern zur technisch reibungslosen Nebelverpackung. In den USA sind zwar neuerdings alle Bereiche des öffentlichen Lebens vollends eingenebelt, doch eine üppige Nebelreserve für die nächsten vier Jahre kann nicht schaden. Wir werden Nebellager bauen“ (Zitat: Washington Journal for Foggy Politics).

Nebelinfantilisierung: Die aktuelle Kinderbuchblödigkeit ist sehr anfällig für liebliche Nebelgeschichten. Wir basteln einen Nebel. Wir malen einen Nebel. Wir suchen Ostereier im Nebel. Wir singen Nebellieder. „Ei, ei, ei, du bist so weiß, gottverdammter Nebelscheiß!“ Achtung, Triggerwarnung! „Diese Textzeile wurde wurde wegen fäkalhaltiger Terminologie getilgt. Auch die Variante ,Ei, ei, ei, du bist so grau, du verfluchte Nebelsau!‘ – siehe: diskriminierender Gebrauch von Tiernamen – ist nicht mehr in unserem äußerst erfolgreichen Nebelbuch zu finden. Im entsprechenden Lied heißt es jetzt: ‚Ei, ei ei, wie schön, juchhe! Danke, liebe Nebelfee!‘“ (Mitgeteilt vom Verlag Heile Welt.)

Nebelkontextualisierung: Bei aller diversitätstrunkenen Diskussionsfreudigkeit sollten wir nicht vergessen, unter allen Umständen Nebelpauschalisierung zu vermeiden. Die spezifische Nebelsubstanzialisierung ist in jedem Fall der Nebeldevalorisierung vorzuziehen. Auch eine simple Nebelumdisponierung mit der Brechstange kommt gar nicht in Frage. Wir sollten unbedingt Abstand nehmen von der fatalen Nebelnationalisierung (Stichwort: „Unser Nebel war immer schon der allerbeste. Euer Nebel ist nicht mal ein blasser Abklatsch von unserem Nebel“).

Uff! Es ist nicht einfach, immer schön uneindeutig zu bleiben. Der Diskursnebel will sich nicht lichten. Je mehr die Nebeldiversifizierung fortschreitet, umso schneller schwindet unsere Durchblickfähigkeit. Am Ende werden wir wohl unter einer fortschreitenden Nebelokkultierung leiden, wenn nicht gar unter einer ausgewachsenen Nebeldegenerierung, sofern wir uns nicht beherzt von der unablässigen Nebelkonfliktualisierung verabschieden. Aber haben wir noch die Wahl? Können wir noch unbefangen mit Herz und Verstand sagen: Nebel ist Nebel, er kommt und geht, er besetzt die Landschaft und zerstreut sich wieder, er ist nicht der Rede wert? Dürfen wir so primitiv ticken? Können wir uns erlauben, eine derart eindeutige, weltfremde und gesellschaftsfeindliche Nebeldiskriminierung an den Tag zu legen?

Ohne Nebel geht im Leben gar nichts. Mit oder ohne Feuerwerk. Wieso also den Nebel vertreiben? Warum sollten wir den Blick immer nur auf einen imaginären Punkt jenseits der allgegenwärtigen Nebelwände richten? Denn bei Klarsicht beschleicht uns sofort ein ungutes Gefühl: Wäre es möglich, dass weltweit die Irren und Wahnsinnigen das Ruder übernommen haben? Nicht nur in Politik und Wirtschaft, sondern auf allen gesellschaftlichen Ebenen? Darüber sollten wir ausgiebig nebulös diskutieren. Wie gesagt: Alles liegt zum Glück im Nebel. Fischen wir also munter und beschwingt im Trüben. Und jetzt? Uns bleibt nur, mit Bertolt Brecht zu klagen: Der Vorhang zu und alle Fragen offen.

Guy Rewenig
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