Deutschland

Provinzpossen

d'Lëtzebuerger Land du 05.08.2022

„Es ist ein Bundesland voller Vielfalt. Einzigartige Landschaften, geprägt von den gewaltigen Gletschern der vergangenen Eiszeit. Angefangen mit der traumhaften Ostseeküste und ihren malerischen Sandstränden und Steilküsten, weiter über die Boddenlandschaft, die hunderttausenden Vögeln eine Heimat gibt, oder entlang endloser Alleen bis zur Mecklenburgischen Seenplatte. Das Leben hier zeichnet sich aus durch dieses Zusammenspiel der Natur. Entdecken Sie die historischen Hansestädte, herrschaftliche Schlösser und Gutshäuser oder genießen Sie die lokalen Spezialitäten der kleinen Fischerdörfer entlang der Küste. Sind Sie bereit für den Strandkorb?“

Eine sehr idyllische Frage, die Luxair-Tours stellt, um die Vorzüge von Mecklenburg-Vorpommern zu bewerben, nun, da der luxemburgische Nationalcarrier zu Sommerzeiten die mecklenburgische Hafenstadt Rostock unter dem irrigen Namen Ostsee-Rostock samstags in den Flugplan aufgenommen hat. Zugegeben, der Landstrich verfügt über das eine oder andere Highlight – und auch blühende Landschaften, wenn im Frühling der Raps auf schier endlosen Äckern blüht, die sich im Sommer dann zu Staubwüsten verwandeln. Es gibt wunderschöne Städte, deren Monumente der Backsteingotik sich zwischen Plattenbau-Großsiedlungen verstecken. Eine davon ist Neubrandenburg in Mecklenburg. Zu Zeiten der DDR war die Stadt ein Vorzeigeprojekt sozialistischer Stadt- und Wirtschaftsplanung. In den letzten Kriegstagen wurde der historische Stadtkern mit seinen Fachwerkhäusern und großherzoglichem Schloss fast komplett zerstört, was den Stadtplanern in der Nachkriegszeit freie Hand gab. In den Siebzigerjahren wurde das Plattenbaumodell WBS 70 hier entwickelt und großflächig hochgezogen. Ende der Achtzigerjahre kratzte die Stadt an der 100 000-Einwohner-Marke und galt als das „New York“ der DDR, als Schmelztiegel der sozialistischen Nationen. Zumindest die nächtliche Skyline braucht den Vergleich nicht ganz zu scheuen. Nach der Planwirtschaft wurde Industrie mit Schwerpunkt Pharmazie und Maschinenbau in Neubrandenburg konzentriert. Irgendwo auf den grünen Wiesen vor der Stadt. Heute dümpelt die Einwohnerzahl bei etwa 63 000. Die städtebaulichen „Sünden“ der Vergangenheit versuchte man in der Nachwendezeit durch noch größere Fehlplanungen zu übertünchen. Und das mit brachialer kapitalistischer Symoblik: In das „Haus der Kultur“, einst das Herzstück der sozialistischen Stadtplanung, Ort der Begegnung und der Kommunikation, zog eine H&M-Filiale.

Doch die Kreisstadt der Mecklenburgischen Seenplatte gewährt heute vor allen Dingen einen Einblick in deutsche Lokalpolitik – abseits der Kameralichter auf der Berliner Politbühne, aber mit überdeutlichem Hinweis, wie denn die politischen Parteien in Deutschland selbstgesetzte Standards einhalten. So gibt es in der Neubrandenburger Stadtvertretung eine seltsame Allianz von AfD, Linke und Teilen der CDU. Das Stimmenbündnis von ganz links bis ganz rechts hat im Fraktionsspiegel des Stadtrats eine knappe Mehrheit von 19 zu 18 Stimmen. Wichtigstes Ziel des Bündnisses: Sich gegenseitig Posten und Pöstchen zuzuschanzen. Die AfD erhielt so durch die Unterstützung der Linken mehr Ausschussvorsitzende, als ihr nach dem Wahlergebnis der letzten Kommunalwahl eigentlich zustehen würden.

In der mecklenburgischen Stadt ist dieses Verhältnis der Parteien bereits gängige Praxis, denn schon in der vergangenen Legislaturperiode stimmte die AfD gerne mit und für Linke und CDU. Nur, dass damals diese beiden Parteien die Stimmen der rechtsextremistischen Partei nicht benötigten, um Politik zu machen und Posten zu erhalten. Nach der Wahl im Mai 2019 stellte die CDU die größte Fraktion und hatte damit das Vorschlagsrecht für die Chefposten in den Ausschüssen der Stadt, wo vor allem die Geschicke Neubrandenburgs gelenkt und bestimmt werden. Oberbürgermeister ist seit 2015 der parteilose Silvio Witt. Er wurde im Januar wiedergewählt. Mit 87,5 Prozent der abgegebenen Stimmen und Unterstützung von SPD, CDU, FDP und Grünen. Gegen einen Kandidaten der Linken.

Im Frühjahr sollte er für seine zweite Amtszeit vereidigt werden, woraus sich dann eine völlige Posse entwickelte. Der Stadtpräsident Neubrandenburgs von der CDU wollte oder konnte die Rede zur Vereidigung nicht halten, stattdessen trug diese die Fraktionsvorsitzende der Linke vor, ohne die Rede des CDU-Vertreters – nach eigenen Angaben – zuvor überhaupt gelesen zu haben. In der Rede wurden schwere Vorwürfe gegen Witt erhoben. Inzwischen weiß niemand mehr, wer die Rede geschrieben hat. Beweise für die Anschuldigungen blieb man indes schuldig. In den lokalpolitischen Tumulten, die sich daraus entwickelten, spaltete sich die CDU-Fraktion in eine CDU/FDP-Fraktion und „Bürger für Neubrandenburg“. Letztere arbeitet offen mit der AfD zusammen, inklusive herzlicher Umarmungen mit Küsschen links und Küsschen rechts. Durch die Spaltung mussten auch alle Ausschüsse neu besetzt und Vorsitzenden neu gewählt werden. Das Vorschlagsrecht ging an die Linke als nun größte Fraktion über. Für den Kulturausschuss nominierte die Linke keinen eigenen Kandidaten, weshalb die SPD einen Vertreter ins Rennen schickte, der jedoch nicht die erforderliche Mehrheit erhielt. Im zweiten Wahlgang stand dann ein AfD-Abgeordneter zur Wahl, der in einer offenen Abstimmung mithilfe der Linkspartei gewählt wurde. Ähnliches Spiel in einem weiteren Ausschuss.

Selbstredend schlugen die Ereignisse aus der mecklenburgischen Provinz hohe Wellen. Sprachen doch gerade CDU und Linke immer von Brandmauern nach rechts, die eine Zusammenarbeit mit der AfD auf jedweder politischen Ebene verhindern sollten. Die Linke hat sogar einen Unvereinbarkeitsbeschluss erlassen, der Paktieren und Koalieren mit der AfD unterbinden sollte. „Für uns ist ganz klar: Wer mit Faschisten zusammenarbeitet, ist eindeutig in der falschen Partei“, tadelte Vanessa Müller, Landesvorsitzende der Linken in Mecklenburg-Vorpommern, ihre Genossinnen und Genossen in Neubrandenburg in einem Gespräch mit dem Magazin Katapult MV. Abgesehen von dem Unvereinbarkeitsbeschluss sollte auch so allen Parteimitgliedern klar sein, dass eine Unterstützung der AfD nicht mit den Grundsätzen der Linken vereinbar sei. Müller weiter: „Wer sich so weit von unserer Partei und ihrem Programm entfernt, muss mit Konsequenzen rechnen.“ Diese blieben indes aus – getreu dem politischen Mantra, dass alles, aber auch alles ausgesessen werden kann..

Martin Theobald
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