Die Stellenbeschreibung für Soldatinnen und Soldaten lässt sich kurz und knackig formulieren: Sie müssen jederzeit bereit sein, für das Ganze zu sterben. Eine nicht besonders attraktive Jobdefinition in Zeiten wie diesen. Und noch dazu ein Satz, mit dem sich die Pazifismus-verliebten Deutschen schwertun. Über Jahrzehnte tat man sich als Großmeister der bewegten Friedensworte hervor. Und steht nun vor den Scherben des gesellschaftlichen Ansinnens. Dennoch war das Staunen groß als Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Februar – wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine – in einer Sondersitzung des Bundestags vollmundig verkündete: „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“ Dazu werde ein ‚Sondervermögen‘ von 100 Milliarden Euro eingerichtet – „für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben“. Es wirkte wie ein Befreiungsschlag für Kanzler Scholz. Und eine Überrumpelung der Deutschen. „Wir tun dies auch für uns, für unsere eigene Sicherheit, wohl wissend, dass sich nicht alle Bedrohungen der Zukunft mit den Mitteln der Bundeswehr einhegen lassen“, fuhr Scholz in seiner damaligen Regierungserklärung fort.
In den sechs Wochen seither ist viel geschehen. Die Bilder aus der Ukraine nahmen an Heftigkeit, Brutalität und Verzweiflung zu. Die Rufe nach Unterstützung der ukrainischen Armee wurden lauter. Doch in Berlin nahm die Regierungskoalition Satz für Satz, Stück für Stück der Ankündigung des Bundeskanzlers zurück. Von einer Erhöhung des Verteidigungsetats auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zur Finanzierung des laufenden Betriebs der Armee ist keine Rede mehr. In den Haushaltsentwürfen für 2022 und die Folgejahre, die im vergangenen Monat im Bundestag beraten wurden, ist die Erhöhung des Budgets auf „mehr als zwei Prozent“ nicht zu finden. Wäre das Ziel ernst gemeint, hätte der Etat auf mehr als 72 Milliarden Euro steigen müssen, doch er bleibt weiterhin gedeckelt bei gut 50 Milliarden Euro. Dies war bereits vor dem Ukrainekrieg geplant und entspricht etwa 1,4 Prozent des deutschen BIP. Bei diesem Deckel soll es auch in den Folgejahren bleiben.
Fachleute der Berliner Regierungskoalition beginnen mit Erklärungsversuchen. Scholz habe in seiner Rede nicht ein Sondervermögen plus die Erhöhung des Verteidigungsbudgets angekündigt, sondern das Sondervermögen bedeute die Erhöhung des Etats von gut 50 Milliarden auf über 70 Milliarden Euro – und damit mehr als zwei Prozent vom BIP. Auf dieses Ergebnis komme man, wenn man die 100 Milliarden Euro Sondervermögen auf die laufenden Etats von vier bis fünf Jahre verteile. Diese Darstellung findet sich ein wenig versteckt und zwischen den Zeilen in der damaligen Rede von Scholz. Als die Medien die Formel ‚Sondervermögen plus zwei Prozent‘ kolportierten, korrigierte die Regierung dies in den Folgetagen nicht.
Dabei braucht die Bundeswehr beides. Erstens das Sondervermögen, um die versäumten Investitionen der letzten Jahrzehnte in Gerät und Ausrüstung zu finanzieren. Die Lücke beläuft sich seit der Wende 1989 auf ungefähr eintausend Milliarden Euro – das Zehnfache des Sondervermögens. Das Verteidigungsministerium möchte in neue Kampfjets und Raketenabwehr investieren und sich an europäischen Rüstungsprojekten beteiligen, etwa dem Future Combat Air System (FCAS). Darüber hinaus braucht die deutsche Armee die Erhöhung des fortlaufenden Budgets auf zwei Prozent des BIP. Denn die jahrelange Unterfinanzierung ist eine der Hauptursachen dafür, warum die Bundeswehr in dem Zustand ist, den Scholz im Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz beklagte: „Wir brauchen Flugzeuge, die fliegen, Schiffe, die in See stechen, und Soldatinnen und Soldaten, die für ihre Einsätze optimal ausgerüstet sind.“ Heutzutage müssen sich Einheiten, die in Einsätze geschickt werden, die nötige Ausrüstung, Fahrzeuge, Waffen und Munition bei anderen Einheiten ausborgen, die zuhause bleiben und dann selbst blank sind. Dies liefert auch einen Grund für die stoische Zurückhaltung Deutschlands beim lautstarken ukrainischen Verlangen nach Lieferung schwerer Waffen: Die Bundeswehr kann diesem Wunsch schlichtweg einfach nicht entsprechen. Diese Ausstattungsmängel zu beheben ist keine Remilitarisierung Deutschlands, sondern bloß notwenige Bedingung und Voraussetzung einer funktionierenden Armee.
Auch die steigenden Ausgaben für Treibstoffe oder Personal belasten den Verteidigungsetat. Allein diese beiden Kostenzuwächse dürften acht bis zehn Prozent des laufenden Budgets beanspruchen – oder, da der Etat nicht erhöht wird, rund 40 Prozent des Sondervermögens, über vier bis fünf Jahre gerechnet. Ungeklärt ist auch, wie es nach der Amtszeit der jetzigen Koalition 2025 weitergeht, wenn das Sondervermögen verbraucht, aber der Wehretat gedeckelt bleibt. Und schon heute weckt das Sondervermögen Begehrlichkeiten, obwohl es noch nicht einmal vom Bundestag eingerichtet ist. Er sei für die Sicherheit in einem breiteren Verständnis gedacht, heißt es, so auch für den Zivilschutz, der ebenfalls seit dreißig Jahren vernachlässigt wurde, und für den Schutz ziviler Datennetze gegen Cyberangriffe. Und schließlich auch für Kulturpolitik, forderte Kulturstaatsministerin Claudia Roth, denn dies sei auch Sicherheitspolitik. Wie auch die Diplomatie. Diese reflektierte Scholz in seiner Wehrrede Ende Februar: „Auch in dieser extremen Lage ist es die Aufgabe der Diplomatie, Gesprächskanäle offenzuhalten. Alles andere halte ich für unverantwortlich.“ Der Überfall Russlands auf die Ukraine bedeute eine Zäsur für die deutsche Außenpolitik. Es gelte nun: „So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein, dieser Anspruch bleibt. Nicht naiv zu sein, das bedeutet aber auch, kein Reden um des Redens willen.“