Deutschland

Am Ende des Wohlstands

d'Lëtzebuerger Land du 01.07.2022

Es ging eine seltsame Verwunderung durch die sozialen Medien: Zum ersten Mal seit Generationen, oder seit Menschengedenken, wohl auch in der Zeit des Verbrennungsmotors war der Sprit im Landkreis Trier-Saarburg günstiger als im benachbarten Großherzogtum. Statt die Preise aus Luxemburg ins Netz zu stellen, wurde nach der günstigsten Zapfsäule zwischen Bitburg und Freudenburg gesucht. Als ob es dort noch eine große Anzahl gäbe. Die Menschen in der Grenzregion streuen sich selbst Sand in die Augen, in der Hoffnung, dass alles gut sein werde – spätestens am Ende des Jahres, des kommenden Winters – und genießen den Sommer im Rausche des Neun-Euro-Tickets, um in einem maroden Netz der Deutschen Bahn mit defekten Zügen vielleicht die hässlichsten Städte der Republik zu besuchen. Neubrandenburg. Rheine. Reutlingen. Ein wenig Idyll täuscht über den Ernst der Lage hinweg.

Seit vergangener Woche hat Russland die Gas-Liefermengen nach Deutschland um über die Hälfte gekürzt. Nun ist die Sorge groß, dass irgendwann überhaupt kein russisches Erdgas durch die Pipelines gepumpt werden wird – mit unabsehbaren Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft. Und auch auf die Nachbarländer. Schon jetzt sind von der Drosselung der Lieferungen nach Deutschland auch Frankreich, Österreich und Tschechien betroffen. Im Sommer. Wie wird es erst im Winter werden? Die Regierung stimmt die Bevölkerung auf kalte, unbequeme Zeiten ein. Vor allen Dingen nach Ausrufung der Alarmstufe des Notfallplans Gas vergangene Woche. Jeder in der Industrie und privat könne einen Beitrag leisten, sagte etwa Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur, letzten Freitag im Morgenmagazin der ARD: „Und ja, dazu gehört auch der Pulli, der Duschkopf, die Heizung ein bisschen runterstellen. All das hilft.“ Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will mit gutem Beispiel vorangehen: „Ich halte mich an das, was mein Ministerium empfiehlt. Meine Duschzeit habe ich noch mal deutlich verkürzt“, sagte er gegenüber der Zeitschrift Der Spiegel.

Weniger Gas, dies bedeutet vor allem: höhere Preise. Bereits seit dem vergangenen Herbst sind die Gaspreise auch für private Haushaltskunden deutlich gestiegen: Aufschläge von 30, 50, 80 Prozent oder noch mehr sind keine Seltenheit. Und dies ist erst der Anfang. Denn die weitere Drosselung der Liefermenge hat im Großhandel den Gaspreis seit vorvergangenem Montag nochmals um über 50 Prozent in die Höhe schießen lassen. Die alles entscheidende Frage wird sein, „ob es gelingt, bis Oktober die Gasspeicher auf 80 Prozent zu füllen“, sagte Claudia Kemfert, Energieexpertin beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, in der Talkshow Anne Will der ARD und empfahl Mietern vorsorglich hohe Rücklagen für kommende Mietnebenkostenabrechnungen zu bilden. „1 000 bis 2 000 Euro.“ In Deutschland wird knapp die Hälfte aller Wohnungen mit Gas beheizt. In der Summe rund 20 Millionen.

Und es kann noch schlimmer werden. Je nachdem, wie viel Gas die Versorgungsunternehmen nun an der Börse hinzukaufen müssen, werden die Verbraucherpreise weiter steigen – allerdings mit Verzögerung. Damit die Gashändler nicht in die Insolvenz geraten, weil sie die Mehrkosten erst deutlich später ihren Kunden in Rechnung stellen können, kennt das deutsche Energiesicherungsgesetz ein „Preisanpassungsrecht“. Wird dies von der Bundesregierung aktiviert, können die Unternehmen sofort sämtliche Verträge mit ihren Kunden kündigen und ihre Mehrkosten in neue Verträge einfließen lassen. Dann würden bereits eine Woche später die neuen, deutlich höheren Preise wirksam. So soll ein Dominoeffekt im Energiemarkt mit Pleiten bei Versorgern und damit verbundenen Lieferausfällen vermieden werden. Ein Mechanismus mit Schattenseiten, wie selbst Habeck feststellt, die zu sozialen Spannungen führen könnten. Daher arbeite man an Alternativen. Er stellte Entlastungen für Menschen mit niedrigen Einkommen in Aussicht. Der Deutsche Mieterbund fordert derweil: „Mieterinnen und Mieter, die die hohen Energiekosten nicht mehr aus eigener Kraft zahlen können, brauchen zumindest für die Dauer der Energiekrise staatliche Unterstützung in Form von dauerhaften Heizkostenzuschüssen.“ Auch die Wirtschaft wird weniger Gas verbrauchen müssen. Kohlekraftwerke, die aus der Reserve geholt werden, sollen Gaskraftwerke ersetzen. Über die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken mag zurzeit noch niemand so recht diskutieren.

Die Bundesregierung hat das Ziel ausgegeben, mit möglichst vollen Erdgas-Speichern in den Winter zu starten. Am 1. November sollen diese zu 90 Prozent gefüllt sein. Doch es ist offen, ob das Pipeline-Gas aus Norwegen und den Niederlanden sowie das Flüssigerdgas (LNG), das in Frankreich, Belgien und den Niederlanden angelandet wird, dafür ausreichen wird. Immerhin: Seit Anfang April konnten die Speicher jeden Tag ein bisschen mehr gefüllt werden. Am vergangenen Freitag meldete die Bundesnetzagentur einen Füllstand von knapp 59 Prozent.

Die Bundesregierung glänzt in diesen Tagen mit einer gewissen Planlosigkeit oder als Meister kurzgesetzter, kurzfristiger, kurzgedachter Maßnahmen, die keinen nennenswerten Effekt zeigen. Wie die Tankrabatte, die den Autofahrenden aus Trier ein, zwei Wochen die Tankfahrt nach Luxemburg ersparen, aber nicht die erhoffte Preissenkung an den Tankstellen brachte. Stattdessen ergibt man sich in Kaffeesatzleserei und versucht den russischen Präsidenten Wladimir Putin als unkalkulierbaren Politiker darzustellen. Als wäre es nicht absehbar gewesen, dass sich Moskau die Abhängigkeit Deutschlands von russischer Energie politisch zunutze machen würde. Schließlich hat der Kreml jahrelang daran gearbeitet, um Berlin in genau diese Abhängigkeit zu bringen. Nun tut Putin das, was Erpresser oder andere Kriminelle, machen: Er dreht den Gashahn zu und hofft, dass sich deutsche Wirtschaft und Gesellschaft selbst zerlegen und in zersetzende Debatten eintreten, damit die Unterstützungsbereitschaft für die Ukraine schwindet.

Martin Theobald
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