Theater

Am Ende bleibt nur noch der Fleischergeselle

d'Lëtzebuerger Land vom 06.03.2020

Würg! Igitt! Da kotzt Lilli Epply gerade mehrere zermalmte Bissen auf den kalkweißen Boden, schon stürzt sich Fabian Krüger auf den Brei und schlingt ihn schnappatmend hinunter. Dem Publikum wird beim Zusehen übel, das Eintippen der Schilderung sorgt für neuen Ekel. Frank Hoffmann mutet seinem aufstöhnenden Publikum so manches zu, wenn er den uniformierten Ulrich Kuhlmann den rechten Arm zum Hitlergruß hochreißen lässt und die organische Verkümmerung von Franz Kafkas Ungeziefer aus dessen Erzählung Die Verwandlung auf der Bühne inszeniert.

Hoffmanns TNL-Produktion mit Fabian Krüger in der Hauptrolle wäre jedoch kein Dienst erwiesen, beschränkte man sich in der Rückschau lediglich auf den nachweislichen Ekelfaktor. Nein, für diesen Premierenabend an der Route de Longwy hat sich ein Regisseur tiefgründig mit dem Text auseinandergesetzt und eine höchst organische Bühnenarbeit geliefert, die ihre eigene Sprache findet.

Zwei Elemente dieses Abends werden wohl in Erinnerung bleiben: die vermeintliche Notlösung Fabian Krüger, der für den erkrankten Uwe Bohm einsprang, und dazu die Bühne des Leipziger Malers Ben Willikens. Durch sie nimmt Hoffmanns Lesart der expressionistischen Verwandlung Gestalt an: In diesem Werk kommen zutiefst verfaulte soziale Strukturen einer Familie ans Tageslicht. Der Umstand, dass der Familiensohn Gregor Samsa eines Morgens als Ungeziefer aufwacht, darf als veräußerlichte Allegorie dieser kranken Beziehungen verstanden werden.

Wie aber stellt man ein Ungeziefer dar, wenn man keines ist? In gebeugter Buckelhaltung füßelt das Fliegengewicht Krüger barfuß über Bühne, Stuhl und Bett, nestelt und krabbelt feingliedrig mit den Fingern, einem Insekt gleich, über den Boden, während eine schwarze Decke seinen Rumpf zum Panzer wölbt. So simpel, so gut. Von der anfangs in feinen Zwirn gekleideten Inkasso-Figur, die Kafkas inneren Monolog menschlich feingeistig spricht, verkommt Gregor Samsa zusehends zum stinkenden Etwas samt Entzündungswunde, die ihm der cholerische Vater mit nachgeworfenen Äpfeln zugefügt hat.

Ben Willikens zeichnet für die Bühne verantwortlich: Im vorderen Bereich die Einrichtung des bürgerlichen Miefs samt Esstisch und gedeckter Tafel, leicht nach hinten versetzt hängt ein nach vorne offener, weißer Kubus in der Schräge. In diesem Raum, in Gregor Samsas Schlafzimmer also, krabbelt Krüger den hängenden Bühnenboden hoch und runter. Auffällig ist dabei, dass die schwarzweiße Wandfarbe so angebracht ist, als sei sie im Lot. Ja, was nun? Ist die Außen- oder ist die Innenwelt aus den Fugen? Was Kafka mit der Divergenz von gepflegtem innerem Monolog und verkommener Physis dokumentiert, findet Hoffmann vor allem in Antithesen dieser Art. Es sind die anfangs klaren Linien der Bühne, die simplen, offensichtlichen Strukturen des Bühnengeschehens, die im Verlauf einer zweistündigen Inszenierung zum sozialen Chaos führen, an dem am Ende ein Familienmitglied unter dem Deckmantel des wertlosen Ungeziefers ausgestoßen wird und schließlich „krepiert“. Hier reicht keine Putzkolonne. Hier kommt selbst der Familientherapeut hoffnungslos zu spät.

Ein interessanter Weg zum Verständnis des Ungeziefer-Motivs als Allegorie für kommunikative Dysfunktion findet sich in einer vermeintlich komischen Doppelszene: Vater und Mutter können ihren Sohn mit dessen tierischen Lauten kaum noch verstehen. Im Gegenzug können sie einander nur dann vollends folgen, wenn sie von der neuhochdeutschen Lexik in ein buchstäbliches „Blabla“ kippen. Die Verwandlung ist eben auch eine Skizze kommunikativer Störung.

Überhaupt entdeckt die Regie das Komische bei Kafka neu, eine Komik, die sich aber nie vom Grotesken löst und – eine Komik, die sich durch eine Vielzahl vorheriger Bühnenarbeiten von Frank Hoffmann zieht. Es ließen sich noch weitere Eigenarten aufzählen, die diese Verwandlung charakterisieren. Sie sprengen jedoch den Rahmen einer Kritik, die ein positives Fazit erlaubt: Mag er auch an einigen wenigen Stellen über das Ziel hinausschießen, so inszeniert Frank Hoffmann mit diesem Kafka einen heftigen, eingängigen, in Bühnenkunst und Darstellung gelungenen Theaterabend. Empfehlenswert.

Die Verwandlung von Franz Kafka; Regie von Frank Hoffmann; Dramaturgie: Florian Hirsch; Bühne: Ben Willikens und Bernhard M. Eusterschulte; Kostüme: Susann Bieling; Musik: René Nuss; mit François Camus, Lili Epply, Maria Gräfe, Fabian Krüger, Ulrich Kuhlmann, Monique Reuter, Annette Schlechter, ist eine Produktion des TNL; weitere Vorstellungen am 6., 8., 11. und 12. März; Karten unter info@luxembourgticket.lu; Informationen: tnl.lu.

Claude Reiles
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