Nationalratswahl in Österreich

Logikdefizit

d'Lëtzebuerger Land vom 20.10.2017

Jede Wahl hat ihr Schlagwort in Österreich. War es bei der Bundespräsidentenwahl im vergangenen Jahr das skurrile „Klebergate“, infolge dessen der Urnengang wiederholt werden musste, ist es bei der Nationalratswahl vom vergangenen Sonntag das „Logikdefizit“. Ins Spiel gebracht hat die interessante Umschreibung von „Versteh das einer“ ein Kommentator beim Versuch, das Debakel der Grünen zu erklären: Streit und schließlich Bruch mit der Parteijugend, Rücktritt der Parteichefin im Sommer, fliegende Übernahme durch innenpolitisch wenig profilierte Vertreterinnen, Festhalten an Prinzipien ohne Rücksicht auf Expertise und Erfahrung langgedienter Mitglieder („Silberrücken“): Lang und konsequent, so scheint es, haben die Grünen an ihrer Selbstdemontage gearbeitet, die ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit jetzt nach 31 Jahren den Auszug aus dem Nationalrat beschert. Dass der abtrünnige Grüne Peter Pilz, einer der längstgedienten Mandatare der Partei, mit seiner eigenen Liste dagegen ins Hohe Haus in Wien einziehen wird, ist signifikant für das Stimmverhalten der Österreicher in dieser Wahl, bei der so viele Wähler wie nie ihr Kreuzchen aus taktischen Überlegungen heraus gemacht haben.

Logikdefizit, das wäre zum zweiten auch dort auszumachen, wo die Wählerabsicht nicht aufgegangen ist: Tatsächlich zeigte sich in der Analyse, dass ein massiver Anteil traditioneller Grün-Wähler sich diesmal für die Sozialdemokraten entschieden haben, um die Großpartei SPÖ mit Christian Kern an der Spitze zu stärken mit dem Ziel, eine Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen unter Heinz Christian Strache zu verhindern. Das ist nicht gelungen. Zwar mussten sich die Freiheitlichen mit Rang drei hinter der von schwarz ins Türkis gewechselten ÖVP von Sebastian Kurz und den Sozialdemokraten zufrieden geben. Doch alle Zeichen stehen auf eine türkis-blaue Koalition. Denn ÖVP und SPÖ können nicht mehr miteinander. Der mit neuem Stil und Zielbewusstsein aufgetretene Kanzler Christian Kern der den unglücklich agierenden Werner Faymanns im Mai 2016 an Partei- und Regierungsspitze ersetzte, arbeitete sich an seinen Vizes Reinhold Mitterlehner und dann Sebastian Kurz rasch ab. Die in zahlreichen großen Koalitionen eingeschliffenen Muster und Vorbehalte setzten sich durch. Ein Miteinander auch unter anderen personellen Vorzeichen scheint unmöglich.

Eine rot-blaue Koalition wäre vor allem für den Parteichef und dann Kanzler Kern ein schwieriger Balanceakt, selbst wenn die Basis und einflussreiche Persönlichkeiten ein taktisches Miteinander wagen würden. Strache und seine Mannen zeigen sich indes über Gebühr beflügelt vom Wahlergebnis, das zwar das bisher größte Stimmenvolumen für die Freiheitlichen brachte, ihnen aber nicht wie angestrebt Platz zwei bescherte. Wie kooperativ sich der blaue Parteichef Heinz Christian Strache Koalitionsverhandlungen vorstellt, zeigte er selbst, indem er als erster klare Bedingungen für eine mögliche Besetzung der Regierungsposten formulierte: eine Koalition mit den Blauen nur mit einem freiheitlichen Innenministerium.

Unter so vielen Verlierern präsentierte sich am Wahlabend das Polit-Talent Sebastian Kurz als einzig wirklicher Wahlsieger und unterstrich sein Image als Mann der Tat, mit sauberen Händen und redlichen Absichten. Artig absolvierte er das erste Gespräch mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen und hat wider allen Augenscheinlichkeiten angekündigt, offen in Koalitionsverhandlungen zu gehen. Er steht aber auch für das dritte Logikdefizit. Der 31-Jährige Berufspolitiker, der seit sechs Jahren der Regierung angehört in einer Partei, die bereits seit mehr als 30 Jahren an den wechselnden Kabinetten beteiligt ist. Vor wenigen Monaten ließ Sebastian Kurz die Koalition mit den Sozialdemokraten platzen und drängte Parteichef Reinhold Mitterlehner aus dem Amt. Die mürbe und müde gewordene konservative Volkspartei färbte er in eine jugendlich-dynamische „Bewegung“ um (Logo, Farbe und Kürzel der ÖVP verschwanden quasi über Nacht), verschaffte sich intern ein nie gekanntes Pouvoir zur inhaltlichen wie personellen Neuausrichtung und scharte als neuer Hoffnungsträger eine Riege von Neu- und Quereinsteigern als frische Repräsentanten der neuen Linie um sich.

So schaffte er es, die Wechselstimmung im Land für sich zu nutzen. Als sei er nicht bereits seit Jahren Teil der Regierung und selbst einmal Integrationsminister gewesen, prangte er in fast oppositionellem Duktus zahlreiche Missstände wie die Wirtschaftslage oder die mangelhafte Integrationspolitik an und verkündet, es sei nun „Zeit für Neues“. Und dem Wahlergebnis zufolge trauen der umgefärbten ÖVP nun mit Kurz an der Spitze tatsächlich zu, die tiefgreifenden Reformen anzugehen, die schon so viele ihrer Vorsitzenden versprochen haben.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen seinerseits sprach bereits in seiner ersten Stellungnahme an, was ihm wohl die größten Sorgen für die künftige Regierung bereitet: Er werde als Bundespräsident im Zuge der Regierungsbildung darauf achten, dass die Interessen der Bevölkerung „immer über der Parteitaktik stehen“. Inhaltliche Ziele und personelle Vorschläge wolle er „sehr genau prüfen“ und dafür Sorge tragen, dass die in der Verfassung verankerten europäischen Grundwerte „der Kompass Österreichs bleiben“. Wie viel diese Worte des überzeugten Europäers fruchten, wird sich zeigen. Nicht zuletzt, da Österreich sich für das zweite Halbjahr 2018 auf die EU-Präsidentschaft vorbereitet.

Ohnehin sind die führenden Parteien in Österreich, unabhängig von allen persönlichen und inhaltlichen Differenzen, ebenso wie die Schwesterparteien in Europa, beim Thema Migration, aber auch in sozialen und Fragen wie Sicherheit, peu à peu nach rechts gerückt. Dazu braucht es die traditionell einwanderungskritischen Stimmen von Seiten einer FPÖ gar nicht mehr: Sebastian Kurz selbst war es, der sich gegen Merkels Flüchtlingspolitik stellte, für die Blockierung der Balkanroute plädierte und ihr nun die Schließung der Mittelmeerroute folgen lassen will, und der konsequent die „Flüchtlinge“ in der politischen Alltagssprache durch „illegale Migranten“ ersetzte. In der EU hat sich die Politik in Wien damit an eine Staatengruppe angenähert, die in Sachen Einwanderungskritik bislang die Themenführerschaft innehatte: die Visegrad-Vier, die aus Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei und Ungarn bestehen. Kurz könnte hier mit starken Verbündeten einen massiven Gegenpol zu Merkel setzen und den rechten Trend in Europa weiter verstärken.

Irmgard Rieger
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