Die kleine Zeitzeugin

Was gerade geschieht?

d'Lëtzebuerger Land vom 06.07.2018

Was für eine Frage, als hätte eine den Durchblick in dieser verhaltenskreativen Welt, in der sich alles verschiebt, auflöst, neu formt, neu definiert, wo neue Grenzen geschaffen werden zwischen Menschen, die sich äußerlich immer ähnlicher werden. Und wo immer neue Begrifflichkeiten geschaffen werden, die das Begreifen erschweren. Tarn-Termini, kosmetische Codes über nackte Wahrheiten gestülpt. Wo so vieles ausgeblendet wird und anderes uns blendet.

Als hätte einer den Überblick, was so läuft. Wie zum Beispiel die Hasen und Flüchtlinge laufen. Wo sie ersaufen. All das schlägt sowieso keine hohen Wellen mehr. Keine hochrangigen Poltiker_innen treffen sich mehr vor schlichten, aber doch schmucken Särgen an einer Küste zu einem Betroffenheitsritual, dass vor der Glotze die Zähren vollautomatisch kullern.

Hatten wir schon, waren wir schon.

Nicht einmal bei dem, was sich in nächster Nähe abspielt, ist Durchblick garantiert, gerade bei dem. In der Heimat Luxemburg, wo der Löwe das Maul groß aufreißt und Sprüche und den Diskurs an sich reißt. Nebenan, der greise Kaiser von Bayern kündigt einer trivial gewählten Kanzlerin gerade die Gefolgschaft auf, um sich alsbald wieder mit dem Kreuz bewaffnet hinter sie zu stellen. Der Erbfolger mit seinem äbtisch selbstzufrieden-doppelbödigen Grinsen scharrt

in den Startlöchern, ebenfalls mit dem Gepeinigten, der zur Verkörperung der Leitwolfkultur wird, wedelnd. Die Leitwolfkultur ist längst kein Tabuthema mehr, alle schauen dem Volk jetzt beflissen aufs Maul und reden demselben dann danach. Bloß nicht mehr abgehoben sein. Elitär. Grün oder so was. Auch die rote Zora, bestgekleidete Frau im deutschen Fernsehen und aus edlem Marmor, entdeckt zum Entsetzen ihrer Genoss_innen das echte Volk, sie will jetzt eine Stimme dieses Volkes sein, vielleicht kriegt sie dann mehr Stimmen. Und die Rechten nicht.

Weil ja jetzt alle rechts werden. Und Europa wird Orbanistan, light natürlich, menschlich lächelnd wie Roboterin Sophia, Empfangsdame in Saudi- Arabien. Wunderknabe Kurz ist mit Wiener Charme-Offensive auf Dauer-Tournee, devot biegsam spult er seine wundersam leeren Zauberformeln herunter, bis alle betört einschlafen. Dass er das Mittelmeer absperren will, was noch vor kurzem zu Hohngelächter und entsetztem Aufschrei führte, klingt jetzt irgendwie so... beruhigend. Können ja wirklich nicht alle. Möglichst diskret werden junge Männer, die keiner braucht, in Afhanistan deponiert, Merkel diagnostiziert Afghanistan jetzt wieder als sicher. War schon ein Weilchen keine deutsche Botschaft mehr im Visier.

Macron herzt den Papst, mit hypnotischem Blick hält er das päpstliche Antlitz im Schraubstockgriff. Er redet vor dem Klerus in einer Kathedrale, er schäkert mit Trump, lässt sich von ihm den Hof machen. Allmählich erlahmen sogar die Altmodischen, die die letzten links schlagenden Herzen in Europa trösten.

Unterdessen steht Österreich vor der Einführung des 12- Stunden-Tags, Straches kleine Leute reiben sich die Augen, wieder mal reingefallen. Aber schon blendet Kurz sie wieder, seine Beliebtheitsgrade steigen.

What else? Ja klar, da war doch noch was, Klimawandel, gähn, eh schon da, sowieso, wissen wir doch, Diggi-Tal, klar, Europa bewohnt die Talsohle von Diggi-Tal, und die Roboterinnen nicken uns liebevoll zu. Aber jetzt ist erst mal Sommer.

Und WM, bei unseren russischen Freund_innen. Selbst die Deutschen haben ihre moralischen Bedenken erfolgreich besiegt und wurden dann besiegt, was immer noch zu traditionellen Schadenfreude-Reflexen führt. Andererseits, was ist eine Weh Emm ohne den deutschen Motor, der Tempo macht?

Egal, Weh Emm immer gut. Ein weltumfassendes, homöopathisches Heilmittel, der kleine Krieg, mit Kriegsbemalung, eine Impfung gegen den großen, bösen. Torhelden statt Heldentore. Fahnen, Hymnen, Kriegsgeheul, ab und zu blutet einer, aus der Nase, die Herzen bluten immer.

Dann gehen alle nach Hause mit Moskau- Souvenirs.

Zumindest da gibt es Überblick.

Michèle Thoma
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