Katastrophenpläne

Amok in der Schule

d'Lëtzebuerger Land vom 20.05.2010

Heute loben wir die guten Katastrophenpläne. Neulich verriet die Unterrichtsministerin ihre Vorstellungen, wie mit Amokläufern in der Schule umzugehen ist. Auf diese Instruktionen haben wir sehnsüchtig gewartet. Amok ist in unserem Bildungswesen ein eminentes, wenn nicht gar zentrales Thema. Jederzeit kann der Amokläufer aus heiterem Himmel auftauchen, alle Klassen in allen Schulgebäuden sind permanent gefährdet. Nicht auszudenken, wenn der Amokläufer mitten in eine Koordinierungssitzung des Lehrpersonals hineinplatzt. Die Koordinierung aller Unterrichtseinheiten und Lernschritte ist das Kernstück der Schulreform. Hindert der Amokläufer den Lehrkörper am Koordinieren, bricht die Schulreform zusammen. Lehrer, die nicht mehr koordinieren können, sind auch nicht mehr in der Lage, überhaupt noch Lerninitiativen zu ergreifen. Das Lehren –vor der Schulreform die sträflich aufgebauschte Hauptbeschäftigung der Lehrer – wäre plötzlich seines bürokratischen Rahmens beraubt.

Da wir in letzter Zeit immer zahlreicheren Lehrern begegnen, die geradezu süchtig nach bürokratischer Mehrarbeit sind und schon beim Wort „Bürokratie“ in freudige Trance verfallen, wundern wir uns ein bisschen, dass die Ministerin bislang noch keine ausführlichen Rahmenrichtlinien für den Umgang mit Amokläufern geliefert hat. Wie soll die Lehrerschaft denn das komplexe Thema „Amok“ bewältigen, wenn die theoretischen Konzepte immer noch nicht auf dem Lehrerzimmertisch liegen? Der Amokläufer an sich ist eine Lappalie. Amok laufen kann jeder, darüber muss man nicht groß diskutieren. Wir fragen also ganz kategorisch: Riskieren die Lehrer nicht, unzählige Amokläufer an ihren Arbeitsstätten ganz einfach zu übersehen, wenn sie mangels Amokerkennungsstrategien die Amokeinkreisungsmethodik gar nicht in Angriff nehmen können? Noch kompakter gefragt: Wie steht es mit dem Amokkompetenzsockel unserer Lehrerschaft?

Jeder Dorfverein, etwa die lokale Feuerwehr, darf in der Schule sein Weiterbildungsprogramm abspulen. Brandschutzübungen gehören seit Jahrzehnten zum pädagogischen Arsenal. Warum also stehen nicht auch Amoklaufsimulationen auf der Liste der obersten Notwendigkeiten? Es gibt doch ausreichend arbeitslose Schauspieler, die mit vollem Körpereinsatz den Amokläufer mimen könnten. Wäre es nicht an der Zeit, ein nationales Reservoir von schulischen Amoklaufsimulanten aufzubauen? Oder nimmt es die Ministerin billigend in Kauf, dass in bestimmten Schulen nie Amokläufer auftreten, nur weil kein konsequentes Amokinvestigationstraining auf die Beine gestellt wurde? Sind diese Schulen, die wegen der Versäumnisse des Ministeriums nie in den Genuss eines Amoklaufs kommen, nicht etwa krass diskriminiert gegenüber privilegierten Schulen mit gut eingespielter Amoktradition?

Warum werden die Lehrer so auffällig von der Ministerin unterschätzt? Die allermeisten Pädagogikspezialisten lechzen nach sinnvoller Zeitvergeudung. Nichts lieben sie mehr, als stundenlang im Lehrerzimmer zu hocken und haufenweise bürokratische Formalitäten zu erledigen. Wir haben schon immer von einem Bildungssystem geträumt, wo es nicht länger ums Lernen geht, sondern um die ununterbrochene Stabilisierung und Konsolidierung expansiver Lerntheorien, Lernentwürfe und Lernprojektionen. Was ist denn die armselige Lernpraxis, das mickrige Einüben von Fertigkeiten, gegenüber der wundervoll ausgeklügelten, lebensprallen Lerntheorie? Amok eignet sich doch hervorragend zur theoretischen Analyse. Warum gibt es nicht längst an allen Schulen obligatorisch eine wöchentliche Amokbewertungsplenarsitzung?

Und vergessen wir vor allem nicht die statistischen Erhebungen. Lehrer sind Statistikfanatiker, soviel steht fest. Sie können gar nicht genug kriegen von Formularen, Fragebögen, auszufüllenden Listen. Unser Bildungssystem hat im Augenblick nur einen schwachen Punkt: die Präsenz der Schüler. Wie sollen Lehrer sich engagiert und sachkundig ihren statistischen Pflichten widmen, wenn ihnen ständig marodierende Schüler in die Quere kommen? Ist es nicht eine gründliche Überlegung wert, ob unsere erfolgreich reformierte Schule überhaupt noch Schüler braucht? Ist es im Zweifelsfall nicht weitaus wichtiger, alle Lehrer in ein schulübergreifendes Statistikexperiment einzuspannen, das am Ende dokumentarisch genau belegt, dass die schülerfreie Schule im Grunde die höchsten Kompetenzgarantien bietet? Die lehrerfreie Schule wäre dann der nächste Schritt. Aber nur, wenn alle Lehrer zuvor die entsprechenden theoretischen Begleitmaßnahmen mit Akribie befolgen. Die Schule wäre dann nur mehr ein leeres Gebäude, die Schulreform hingegen ein voller Erfolg. Unschlagbar wirklichkeitsnah.

Der Haken wäre nur, dass Amokläufer ungern in leeren Schulgebäuden randalieren. Das würde ihrer Kompetenz frontal zuwiderlaufen. Sollte die Lehrerschaft nicht mal in allernächster Zeit eine Koordinierungssitzung zusammentrommeln, um gemeinsam zu untersuchen, wie dieses Manko evaluiert werden könnte?

Guy Rewenig
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