Oma Rotkäppchen ist alt geworden. Ihr Märchen darüber, wie sie vom Wolf gefressen und aus seinem Bauch geschnitten wurde, und über den Heiratsantrag, den ihr Retter ihr danach machte, sind eher Geschichten für den Psychiater. Das findet jedenfalls ihre Enkeltochter, die das alles schon tausendmal gehört hat. Und dass diese zugewanderten Wölfe den jungen luxemburgischen Mädchen nur an die Wäsche wollen, stimmt so doch irgendwie auch nicht ganz! Es ist eine Kriegerklärung an die „veralteten Texte“: Wir, die Enkel dieser Geschichten und ErzählerInnen, sind viel zu cool-medienverwöhnt-welterfahren für diese verstaubten Werke der Weltliteratur, die erst einmal (wieder) aufgemotzt werden müssen. Und so nehmen sich die Kurzgeschichten des Sammelbandes Mutationen Texte von Kafka, Roth, Tucholsky oder Woolf zur Vorlage, um sie mit allem modernen Schnickschnack und technischem Klimbim aufs hochtourige 21. Jahrhundert zu polieren. In verdrehten Persiflagen setzen sie die Klassiker in die Gegenwart und verkehren sie zm Teil hakenschlagend in ihr Gegenteil, thematisieren die Absurdität und Widersprüchlichkeit des modernen Menschseins. Sie nehmen die Perspektive einer Schnecke an der Wand ein, eines aus dem Berliner Zoo entlaufenen Eisbären oder einer Stubenfliege, die sich eines Morgens in einen ungeheuren Humanoiden verwandelt sieht.
Wieso braucht es für diese Neuschreibungen aber ausgerechnet diese „großen“ literarischen Vorlagen? Im Spagat ihrer Neuschreibung fühlt man die Zeit, die verstrichen ist, seit die Texte geschrieben oder vielleicht zum ersten Mal (von uns) gelesen wurden. Ihre schamlose, auf einen Witz bedachte Verdrehung kitzelt die wissenden LeserInnen: eine unverhohlene Freude an der Karikatur der Schullektüre. Gleichzeitig soll anscheinend ein gewisser „wahrer“ Kern, der noch immer Gültigkeit hat, herausgearbeitet werden, der auch zu denen spricht, die die Vorlagen nicht kennen – hier werden die Ur-Texte zum Gerüst, an dem sich der Schmarotzer wie Efeu emporrankt, humorvoll und lässig, ironisch-bitter. In mir sträubt sich etwas gegen diese „darum-geht-es-also-in-dieser-Geschichte“, aber darum geht es eigentlich auch irgendwie nicht in den daraus mutierten Kurzgeschichten: Die Texte erzählen vielmehr mit überraschenden Puns und Seitenhieben am Puls der Zeit(kritik), was die Wurzeln des Autors im Poetry Slam durchscheinen lässt.
Alltägliches und Witz werden mit grundlegenden, ernsten Fragen durchmischt. Mitbegründer der ersten Luxemburger Lesebühne, schreibt Francis Kirps heute für die Satireseite der taz. Sein Humor bezeugt die Erfahrung mit einem zuhörenden Publikum. Die Punchlines spielen mit der Erwartungshaltung der Leser, die kurzen und vielfältigen Texte streifen so verschiedene Genres wie Science-Fiction, Dystopien, Märchen und Kafkaeskes. Dennoch lässt der rasante Textfluss der Kurzgeschichten Rhythmus, Reime oder Sprachexperimente vermissen, wie man sie im Poetry Slam fühlen kann. Im Fokus steht nicht das Literarische oder die Sprache, sondern der willentliche Abusus der literarischen Vorbilder: Mutationen der Originaltexte, Mutationen der (zuvor menschlichen) Perspektiven in Kurzgeschichten, Mutationen in den erzählten Welten. Mutationen der Welt, in der wir leben. Wenn die altbekannten Vorbilder manchmal überstrapaziert werden, lassen die Texte den Kopf schütteln, aber vor allem oft laut auflachen. Claire Schmartz