In den vergangenen Jahren hat sich die Geschichtsschreibung verändert. Wurde sie zuvor als Nebenbeschäftigung von Sekundarlehrern ausgeübt, so nahmen sich nun die Historiker der neu gegründeten Universität ihrer an, auch wenn sie die Geschichte zuerst nur verschieden interpretierten (und digitalisierten). Mit Gilbert Trausch verschwand der letzte Staatshistoriker, ein Nachfolger wurde noch nicht gefunden oder wäre der gesellschaftlichen Veralzheimerung abträglich.
Unter der liberalen Koalition brachten die barsche Absage der geplanten Ausstellung über den Ersten Weltkrieg und Vincent Artusos Bericht über die Verwaltungskommission im Zweiten Weltkrieg die Geschichtsschreibung in die politische Tagesak-tualität. So bot sich Historikern die Gelegenheit, sich als öffentliche, vielleicht sogar organische Intellektuelle zu Wort zu melden.
Zu dieser Zeit begann Denis Scuto, Geschichtsdozent an der Universität, der über die Arbeiterbewegung, die Einwanderung und die Nationbildung geforscht hatte, wöchentliche Beiträge für das Radio 100,7 und gleichzeitig das Tageblatt zu verfassen. Die Geschichtschronik sollte dazu dienen, die gesellschaftliche und politische Gegenwart zu deuten, beziehungsweise das Luxemburg von heute und seine Herausforderungen besser verstehen zu helfen, wie Denis Scuto im Vorwort zur aufwändig gestalteten und entsprechend kostspieligen Sammlung Une histoire contemporaine du Luxembourg en 70 chroniques schreibt (S. 18).
Die im Tageblatt erstveröffentlichten Beiträge erzählen vom Entstehen des Nationalstaats, der europäischen Integration, den internationalen Beziehungen, Volksbefragungen und dem Wahlrecht, aber auch vom Leben im Erzbecken, den Auswanderern und Einwanderern und dem Maulkorbgesetz. Die Brücke zur Gegenwart schlagen Beiträge über die Umweltschutzbewegung oder die Vertuschung von Sexualstraftaten im Bistum, wenn die Themen nicht gleich der Tagesaktualität entnommen sind, wie der Aufstieg Donald Trumps und Matteo Salvinis und der Terrorismus. Die Entwicklung des Steuerwesens und der automatischen Indexanpassungen wird beschrieben, auch wenn Wirtschaftsgeschichte nur am Rande vorkommt. Breiten Raum nehmen der Erste und der Zweite Weltkrieg ein, etwa mit dem erschütternden Schicksal Joseph Springuts (S. 498).
Die Beiträge gehen auf in den Archiven begrabene Dokumente, Zusammenfassungen von Arbeiten anderer Forscher, gegen den Strich gelesene Kapitel der Landesgeschichte bis zu Belletristik, Filmen und Ausstellungen zurück. Tenor vieler Chroniken ist die Überzeugung, dass es hinter der heroischen, patriotischen Geschichte der Schulbücher und Sonntagsreden eine vernachlässigte oder verdrängte Geschichte gibt, die von der Mühsal der einfachen Leute, von den vergessenen Helden und den aus Staatsräson weißgewaschenen Schurken erzählt. Diese Geschichte ans Tageslicht zu zerren, erscheint als mühsamer und manchmal schmerzhafter Prozess.
In einer Zeit, da viele wissenschaftliche Veröffentlichungen sich ängstlich auf Methodologie und Faktensammeln beschränken, um vor den erwarteten Schlussfolgerungen abzubrechen, verzichtet Denis Scuto auf die Illusion objektiver Wissenschaftlichkeit. Er schreibt feuilletonistisch in der ersten Person und spricht wiederholt die Zuhörer und Leser direkt an. Sein Geschichtsbild zur Deutung der Gegenwart ist aufklärerisch, fortschrittlich, sozialdemokratisch. Von grundsätzlicheren Kritiken distanziert er sich mehrfach, es ist also nicht allzu störend.