Die Verfassung des Revolutionsjahrs 1848 hatte die große Wende gebracht. Sie hatte in Artikel 108 festgelegt: „Jedes Jahr stellt die Kammer die Staatsrechnung durch ein Gesetz fest, und stimmt das Büdget.“ Am Mittwoch dieser Woche beschloss das Parlament mit 55 gegen fünf Stimmen, dass es ein Stück zur autoritären Verfassung von 1841 zurückkehrt. Sie besagte in Artikel 29: „Die Mitwirkung der Landstände ist endlich zur Festsetzung des Staatsbüdjets nothwendig.“
Zu Beginn der Sitzung, die darüber entscheiden sollte, ob das Parlament bei der Bestimmung der Staatsfinanzen wieder bloß mitwirken statt entscheiden soll, war die Regierungsbank leer. Dann erschien Finanzminister Pierre Gramegna (DP). Für die Frage, wie viel Budgethoheit im Rahmen von europäischem Fiskalpakt, Six-pack und Two-pack von politisch rechenschaftspflichtigen Parlamentariern an niemand rechenschaftspflichtige Technokraten und Automatismen abgetreten werden soll, nutzte das halbe Dutzend Redner nicht einmal seine Rednerzeit voll aus. Die Partei des Staatsministers schickte überhaupt keinen Redner zur Tribüne, nachdem DP-Berichterstatter Eugène Berger den Gesetzentwurf vorgestellt hatte. Nach zwei Stunden war die Debatte schneller vorüber als geplant.
Das eindeutige Abstimmungsergebnis und die unauffällige Debatte im Parlament spiegelten aber, wie so oft in europapolitischen Fragen, nur unzureichend die politische und soziale Herausforderung wider. LSAP-Fraktionssprecher Alex Bodry brachte sie auf den Nenner, als er auf die „diametral entgegengesetzten Positionen der Handels- und der Salariatskammer“ in ihren Gutachten hinwies. Die Handelskammer begrüßte das Gesetz und verlangte sogar mehr davon, die Salariatskammer lehnte es als gefährlich ab.
Zwar gestand Alex Bodry der Salariatskammer zu, dass man „kritisch gegenüber verschiedenen Aspekten der europäischer Finanzpolitik“ sein müsse. Denn es gebe „Manches im Detail zu kritisieren, mancheAuswirkungen haben sich als verheerend erwiesen“. Aber mit dem historischen Zitat von Margaret Thatcher räumte er dann ein: „Ich sehe aber keine gangbare Alternative.“
Doch wie der Interessenkonflikt zwischen Handels- und Salariatskammer, zwischen „Austerität und Wachstum“ ausging, erklärte der ehemalige CSV-Finanzminister Luc Frieden bei seinem letzten Auftritt in der Kammer: „Der Text entscheidet, wenn nicht politisch, so doch juristisch die Debatte“ – 1:0 für die Handelskammer. Es gehe schließlich um einen „Binnenmarkt mit einer gemeinsamer Währung, von dem Luxemburg extrem profitiert“. Deshalb habe sich Luxemburg auch immer an die Stabilitätsregeln gehalten „bis auf 2008-2009, was extreme Krisenjahre waren und wir mit einer antizyklischen Politik mehr Geld ausgaben“.
Alex Bodry erzählte aus der Koalition mit der CSV, dass Luc Frieden die Defizitbremse in die Verfassung schreiben wollte, doch Premier Jean-Claude Juncker sei dagegen gewesen. Ein wenig bedauert Luc Frieden das noch heute und schlug vor, den Schritt bei einer Revision von Verfassungsartikel 99 nachzuholen.
Am Ende stellte sich nur Justin Turpel im Namen der beiden Abgeordneten von déi Lénk auf die Seite der Salariatskammer. Aus der Sicht der Handelskammer verglich Berichterstatter Eugène Berger das Gesetz mit der Fußballweltmeisterschaft: Der Fiskalpakt diene dazu, „die europäische Mannschaft gut aufzustellen“, denn auch „die einzelnen Spieler müssen gut dastehen“, um auf dem „Spielplan in der Welt mitzuhalten“.
Trotzdem war nicht allen Rednern ganz wohl zumute bei der Vorstellung, dass sie vielleicht künftig durch unabhängige Experten und automatische Korrekturmechanismen ersetzt werden könnten wie Fließbandarbeiter durch Roboter. Deshalb beruhigten sie sich und ihre Zuhörer, dass nichts Großes ändern werde. Man müsse sich nun an eine Haushaltsnorm halten, aber die gab es schon einmal, erinnerten sich Luc Frieden und Pierre Gramegna. Der DP-Minister zitierte sogar den unsterblichen CSV-Patriarch Pierre Werner.
Zudem habe, so Eugène Berger, die Regierungsmehrheit beim geplanten Korrekturmechanismus gegen Haushaltsdefizite „eine nationale Lösung im Hinterkopf gehabt, damit nicht sofort Brüssel eingreift, sondern wir hier in Luxemburg schauen, wie wir die Sache wieder in den Griff bekommen“. Damit, wenn der Korrekturmechanismus fällig wird, „wir das selbst hier zuhause machen“. Sowieso stehe schon im Koalitionsabkommen, dass DP, LSAP und Grüne bis 2018 das Defizit und die Schulden abbauen wollten.
Auch Alex Bodry freute sich: Die sozialistische Fraktion sei „einverstanden damit, wie die Regierung den Interpretationsspielraum des Abkommens nutzt, um einen Handlungsspielraum und eine gewisse Flexibilität zu behalten“. Die Regierung habe von einer „maximalistischen Umsetzung abgesehen, die einzelne in ihren Gutachten verlangten, um noch mehr Automatismus einzuführen und den politischen Spielraum national auf null zu reduzieren“.
Am Ende war sogar der eher zur Handelskammer neigende Finanzminister Pierre Gramegna „zufrieden über den Konsens, dass die Abkommen nicht auf maximalistische Art und Weise umgesetzt werden sollen“. So blieben „der Regierung ein gewisser Spielraum und dem Parlament ein gewisser Spielraum“. Um die Kritiker nachträglich einzubinden, würden zudem „die lebendigen Kräfte der Nation“ in den Conseil national des finances publiques berufen.
Maximalistisch ist das Gesetz allerdings, wenn es statt bloß eines ausgeglichenen Haushalts einen strukturellen Überschuss von 0,5 Prozent vorschreibt – „mit das höchste Ziel in der Europäischen Union“, so Alex Bodry, der auch die Erklärung parat hatte: die Schuld, die in der Zukunft auf das Rentensystem zukomme. Dass man gerade dabei war, ein Rekordsaldo zum Gesetz zu machen, in dem man das Umlageverfahren der Rentenversicherung wie ein privates Kapitaldeckungsverfahren als implizite Staatsschuld verbuchte, stellte aber niemand in Frage.
Der grüne Sprecher Henri Kox war in der peinlichsten Situation. Er hatte vor einem Jahr zusammen mit seiner gesamten Fraktion gegen die Ratifizierung des vehement kritisierten Fiskalpakts gestimmt. Nun musste er erklären, dass die seither in die Regierung gewechselten Grünen die Entscheidung des Parlaments respektieren wollten, das den Pakt 2013 schließlich mit großer Mehrheit ratifiziert habe, so dass sie nun sogar das ausführende Gesetz dazu stimmten.
Ebenso widersprüchlich wie die Grünen für das Gesetz stimmten, stimmte die ADR dagegen, weil „europäische Bürokraten und Technokraten“ die nationale Politik ersetzen sollen. Andererseits war sie auch dafür, denn „wir waren die erste Partei, die für eine Schuldenbremse plädierte“, erinnerte sich Roy Reding stolz.
Zwar verabschiedete das Parlament das Gesetz am Ende mit überwältigender Mehrheit, aber niemand kannte die praktischen Folgen. Alex Bodry fragte sich, wie die verbindlichen Haushaltsziele für die Gemeinden und die Sozialversicherung festgelegt werden sollen und wie sie mit deren Autonomie vereinbar seien. Eugène Berger erzählte dazu aus dem Finanzausschuss von einer „lebhaften Debatte“ der Députés-maires über den Beitrag, den die Gemeinden leisten sollen. Nach einem Gutachten des Gemeindesyndikats Syvicol habe man die Formel gefunden, laut der das Engagement der Gemeinden „erst einmal politischer Natur“ sei, danach sehe man, „wie sich die Zwangsmaßnahmen auswirken“.
Vor allem aber nannte Finanzminister Pierre Gramegna dens im Gesetz vorgesehene strukturelle Saldo eine „extrem komplizierte Berechnung“ und hoffte, dass „die Kommission nach allerlei Hin und Her“ in den nächsten Monaten verlässliche Anweisungen liefern werde, wie ein struktureller Saldo gerechnet werden soll. Alex Bodry beklagte diese „Rechtsunsicherheit, denn das Nicht-Einhalten kann zu Sanktionen führen“.
Doch am Ende freute sich der Finanzminister darüber, dass auch die CSV, deren Finanzminister den Gesetzentwurf noch eingebracht hatte, dafür stimmte: „So bekommen wir eine super-qualifizierte Mehrheit“ auch wenn das Gesetz nicht den vom Stabilitätspakt verlangten Verfassungs- oder verfassungsähnlichen Rang erhalte. Aber schließlich habe das Parlament schon vergangenes Jahr den Fiskalpakt mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet und der entspreche als internationales Abkommen einer höheren Rechtsnorm, „deshalb können wir nicht angegriffen werden“. Doch das hatte seinerzeit auch François Biltgen über die Reform der Studienbörsen behauptet.
Defizitbremse
Fiskalpakt
Artikel 3, (1) a. – Der gesamtstaatliche Haushalt einer Vertragspartei ist ausgeglichen oder weist einen Überschuss auf. [...]
(2) Die Regelungen nach Absatz 1 werden im einzelstaatlichen Recht der Vertragsparteien in Form von Bestimmungen, die verbindlicher und dauerhafter Art sind, vorzugsweise mit Verfassungsrang, oder deren vollständige Einhaltung und Befolgung im gesamten nationalen Haushaltsverfahren auf andere Weise garantiert ist, spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten dieses Vertrags wirksam.
Loi relative à la coordination et à la gouvernance des finances publiques
Art. 2.– La situation budgétaire des administrations publiques respecte l’objectif d’équilibre des comptes tel qu’il est défini à l’article 3, paragraphe 1 du traité sur la stabilité, la coordination et la gouvernance au sein de l’Union économique et monétaire, signé à Bruxelles, le 2 mars 2012, dénommé „traité“ ci-après.
Mittelfristiges Ziel
Fiskalpakt
Artikel 3 (1)b. – Die Regel unter Buchstabe a gilt als eingehalten, wenn der jährliche strukturelle Saldo des Gesamtstaats dem länderspezifischen mittelfristigen Ziel im Sinne des geänderten Stabilitäts- und Wachstumspakts, mit einer Untergrenze von einem strukturellen Defizit von 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts zu Marktpreisen, entspricht.
Loi relative à la coordination et à la gouvernance des finances publiques
Art. 3.– (1) (2) La loi de programmation financière pluriannuelle couvre une période de cinq ans comprenant l’année en cours et les quatre années suivantes.
(3) La loi de programmation financière pluriannuelle détermine les trajectoires des soldes nominaux et structurels annuels successifs des comptes des administrations publiques ainsi que l’évolution de la dette publique et la décomposition des soldes nominaux annuels par sous-secteur des administrations publiques conformément aux dispositions du SEC.
Korrekturmechanismus
Fiskalpakt
Artikel e). – Erhebliche Abweichungen vom mittelfristigen Ziel oder dem dorthin führenden Anpassungspfad lösen automatisch einen Korrekturmechanismus aus. Dieser Mechanismus schließt die Verpflichtung der betreffenden Vertragspartei ein, zur Korrektur der Abweichungen innerhalb eines festgelegten Zeitraums Maßnahmen zu treffen.
Loi relative à la coordination et à la gouvernance des finances publiques
Art. 6.– (1) Si les comptes annuels du secteur des administrations publiques présentent un écart important par rapport à l’objectif à moyen terme ou par rapport à la trajectoire d’ajustement, et sauf dans les circonstances exceptionnelles visées à l’article 3, paragraphe 3 du traité, le Gouvernement inscrit au plus tard dans le projet de budget pour l’année à venir, des mesures pour rétablir la trajectoire telle que prévue dans la loi de programmation pluriannuelle en l’absence de déviations.
(2) Un écart est considéré comme important s’il est supérieur ou égal à 0,5 pour cent du produit intérieur brut aux prix du marché sur une année donnée, ou à 0,25 pour cent du produit intérieur brut en moyenne sur deux années consécutives.
Überwachung
Mitteilung 342 der Kommission vom 20. Juni 2012
Absatz 7). – Wenn die Überwachung durch unabhängige oder funktional autonome Stellen erfolgt, so kommt dies der Glaubwürdigkeit und Transparenz der Korrekturmechanismen zugute. [...] Der betreffende Mitgliedstaat ist verpflichtet, entweder den Bewertungen dieser Stellen Folge zu leisten oder öffentlich zu erklären, warum er dies nicht tut. [...] Für die oben genannten Stellen werden nationale Rechtsvorschriften erlassen, die ihnen ein hohes Maß an funktionaler Autonomie gewähren, einschließlich i) eines gesetzlich verankerten Status, ii) der Freiheit von Einflussnahme, [...] iii) Benennungsverfahren, die an Erfahrung und Kompetenz ausgerichtet sind, iv) angemessener Ressourcen und eines zur Erfüllung ihres Auftrags angemessenen Zugangs zu Informationen.
Loi relative à la coordination et à la gouvernance des finances publiques
Art. 7.– (1) Il est instauré un organisme indépendant au sens de l’article 3 du traité sous la dénomination „Conseil national des finances publiques“ ci-après le „Conseil“.
(2) Le Conseil national des finances publiques se compose des membres suivants: – deux membres proposés par la Chambre des députés parmi des personnalités du secteur privé, reconnues pour leur compétence en matière financière et économique; – un membre proposé par la Cour des comptes; – un membre proposé par les Chambre de commerce, la Chambre des métiers et la Chambre d’agriculture; – un membre proposé par la Chambre des fonctionnaires et employés publics et par la Chambre des salariés; – deux membres proposés par le Gouvernement.