Am Morgen des 11. März kommt es auf der Linie 60 – Rodange-Esch-Luxemburg zu Verzögerungen im Bahnverkehr. Der Zug, der um 8.16 Uhr im Bahnhof Esch/Alzette losfährt, hat in Bettemburg Endstation, die Passagiere müssen ohne weitere Anweisungen aussteigen. Die nächste Bahn um 8.33 Uhr fährt pünktlich, nimmt aber in Bettemburg dutzende Passagiere aus dem vorangegangenen Zug und aus dem aus Metz-Thionville auf, der aus unbekannten Gründen ebenfalls nicht bis in die Hauptstadt weiterfahren kann. Der Zug aus Esch besteht nur aus drei Waggons und ist bereits ziemlich voll, sodass wegen der zahlreichen zusätzlichen Fahrgäste dichtes Gedränge entsteht.
Am Abend des 13. März fallen gegen 17.30 Uhr mehrere Züge von der Hauptstadt nach Esch-Rodange aus. Wann der nächste Zug auf dieser Strecke fährt, ist ungewiss. Die App der CFL zeigt für die folgenden Züge weitere Ausfälle und Verspätungen an, eine Warnmeldung informiert die Passagiere: „Due to a failure of the control center in Noertzange delays and cancellations are expected between Luxembourg and Pétange/Rodange“. Wie lange sie auf der Stater Gare festsitzen und wann sie endlich nach Hause kommen werden, wissen die Fahrgäste nicht. Am Abend des 19. und 21. März kommt es um etwa die gleiche Zeit wieder zu Verspätungen und Ausfällen, mutmaßlich ebenfalls wegen eines „failure of the control center in Noertzange“. Erneut herrscht Ungewissheit, selbst der Zugbegleiter weiß eigenen Aussagen zufolge nicht, ob oder wann die nächste Bahn fährt.
Am 25. März sagt die App der CFL dem Zug von 17.21 Uhr nach Rodange über Esch zehn Minuten Verspätung voraus. Er fährt jedoch um 17.25 Uhr im Bahnhof der Stadt Luxemburg ab. An der nächsten Haltestelle in Howald hält er länger als geplant: Die Türen schließen minutenlang nicht, laut Ansage des Schaffners, weil Fahrgäste sie blockieren. Vermutlich liegt es lediglich daran, dass der Zug zu voll ist. In Esch kommt er schließlich mit einer Viertelstunde Verspätung an. Damit der Fahrplan nicht durcheinander gerät, wird der Zug von 18.21 Uhr gestrichen.
Trauma Ironischerweise gelingt es der Eisenbahn in den meisten Ländern nicht, sich an die standardisierte Uhrzeit zu halten, die sie im 19. Jahrhundert durch die Erstellung von Fahrplänen selbst eingeführt und zu deren fortschreitenden, weltweiten Ausbreitung sie maßgeblich beigetragen hat (es war ein nach Kanada ausgewanderter schottischer Eisenbahningenieur, der 1884 die internationale Meridiankonferenz in Washington einberief). Unpünktlichkeit im Bahnverkehr ist für die Betroffenen ein Ärgernis: Sie führt zu Ungewissheit und kann für regelmäßige Bahnnutzer zum „Trauma“ werden. Doch sie ist kein neues Phänomen: Schon 1968 beschwerte sich ein Leserbriefschreiber im Wort, „daß ich, und mit mir viele andere Kunden, täglich zu spät zur Arbeit kommen wegen systematischer Zugverspätung“. 1979 klagte ein Fahrgast, ebenfalls im Wort, über den „wirtschaftlich spürbaren Verlust“ der Arbeitszeit durch Verspätungen, um zu schlussfolgern: „Wenn aber die Hauptwaffe der Schiene – ihre Pünktlichkeit – ausfällt, dann ist es nicht so leicht, sich für den Zug zu entscheiden.“
2022 entfielen 1 153 der insgesamt 2 447 Reklamationen, die die CFL entgegennahm, auf die Pünktlichkeit und 494 auf die Information (wegen der in der breiten Öffentlichkeit viel diskutierten Sicherheitsprobleme reklamierten nur 107 Personen). Und das obwohl laut Statistik der CFL im gesamten Netz rund 90 Prozent der Züge pünktlich fuhren.
Auf der Linie 60 waren 2023 nur 85,5 Prozent der Züge pünktlich. Elf Prozent verzeichneten eine Verspätung von mehr als sechs Minuten, 3,5 Prozent fielen ganz oder teilweise aus, erzählt der Direktor für den Bereich Personenverkehr bei der CFL, Marc Hoffmann, im Gespräch mit dem Land. In absoluten Zahlen wären das bei grob geschätzten 40 000 Fahrten pro Jahr 6 000 Störungen – durchschnittlich 16,5 pro Tag. Die 60 ist die Linie der CFL, die die meisten Passagiere befördert. Mehr als neun Millionen waren es vergangenes Jahr. Zum Vergleich: In den Norden (Linie 10) und nach Thionville/Metz (Linie 90) reisten „nur“ 5,6 bis 5,8 Millionen Passagiere – 40 Prozent weniger. Weil sowohl die Linie 60 als auch die Linie 90 und der TGV – zusätzlich zum Frachtverkehr – über die Teilstrecke Luxemburg-Bettemburg führen, ist dieser Abschnitt am anfälligsten für Störungen. Folglich sind auch die Risiken von Verzögerungen und Ausfällen auf diesen beiden Linien am höchsten. Wenn eine Linie Verspätung hat, wirkt sich das häufig auch auf den Fahrplan der anderen Linie aus. Zu den Spitzenzeiten sind sie zudem oft überlastet. Fällt etwa ein Zug aus, muss der nächste doppelt soviele Fahrgäste transportieren. Dadurch werden selbst die Stehplätze knapp, was bisweilen dazu führen kann, dass der Schaffner aus Sicherheitsgründen schon Minuten vor der Abfahrt keine Reisenden mehr in den Zug lässt.
Belege dafür, dass es zu den Spitzenzeiten häufiger zu Störungen kommt, gibt es laut CFL nicht. Wegen der hohen Anzahl an Passagieren am Morgen und am frühen Abend hätten sie jedoch größere Auswirkungen, sagt Marc Hoffmann. Es dauere länger, bis sie sich auflösen, und sie betreffen deutlich mehr Menschen, als wenn sie am Vormittag, am frühen Nachmittag oder am späten Abend auftreten.
Masse Das Statec hat diese Woche eine Untersuchung zu den Fahrwegen zwischen Wohn- und Arbeitsort veröffentlicht, die es zusammen mit der Uni Luxemburg und dem Liser erstellt hat. Sie beruht auf Daten aus der Volkszählung von 2021 und bezieht sich nur auf die Erwerbstätigen, die in Luxemburg wohnen – Grenzpendler werden nicht berücksichtigt. Daraus geht hervor, dass die Struktur der Fahrwege sich trotz aller politischer Bekenntnisse zu wirtschaftlicher Dezentralisierung und zuletzt auch zu Homeoffice zwischen 2011 und 2021 kaum verändert hat. Deutlich gestiegen ist aber die Intensität – die Masse der Fahrten. Die meisten erfolgen von Differdingen, Esch und Düdelingen in die Hauptstadt (und zurück). Jeweils 40 Prozent der erwerbstätigen Einwohner/innen aus den drei größten Südgemeinden arbeiten in der Stadt Luxemburg und ihrem Speckgürtel – insgesamt sind das fast 10 000 Menschen (einschließlich der Beschäftigten aus den ebenfalls direkt oder indirekt an der Linie 60 gelegenen Gemeinden Sanem, Schifflingen, Kayl, Rümelingen und Bettemburg sind es über 16 500). Wie viele davon mit der Bahn und wie viele mit dem Auto fahren, ist bislang nicht bekannt. Auch die sozioökonomische Zusammensetzung dieser Inlandspendler wurde von den Forscher/innen noch nicht untersucht. Zwar seien Rohdaten vorhanden, aber noch nicht entschlüsselt, bestätigen die Geografen von der Uni Luxemburg, Geoffrey Caruso und Yann Ferro, dem Land.
Dem sozioökonomischen Index, den das Statec seit LSAP-Innenminister Dan Kerschs Gemeindefinanzreform von 2017 jährlich berechnet, ist aber zu entnehmen, dass die Medianlöhne in Esch und Differdingen zu den niedrigsten in Luxemburg zählen. Eine qualitative Beobachtung am Escher Bahnhof zeigt zudem, dass viele Bahnfahrgäste entweder Schüler/innen und Studierende sind, oder kleine und mittlere Angestellte, häufig mit Migrationshintergrund. In dieser Hinsicht ist die Pünktlichkeit der Linie 60 auch eine soziale Frage. Es ist davon auszugehen, dass sie (neben einigen Ökoidealist/innen und Automuffeln) in hohem Maße Menschen betrifft, die keine Alternative zum Zug haben – sei es, weil sie noch nicht Auto fahren dürfen oder weil sie sich keins leisten können.
Seit vor 20 Jahren die gesellschaftliche Arbeit durch gleitende Arbeitszeitmodelle nach und nach der Eigenverantwortung der Beschäftigten unterstellt wurde, sind „täglich zu spät zur Arbeit kommen“ und der „wirtschaftlich spürbare Verlust der Arbeitszeit“ für den Arbeitgeber weniger bedeutend als noch vor 50 oder 60 Jahren. Wer heute zu spät zur Arbeit kommt, arbeitet einfach länger und hat eben weniger Freizeit, die er dann auf dem Bahngleis oder im Zug (oder im Stau auf der Autobahn) verbringen darf.
Verkéiersinfarkt Ähnlich wie die Wohnungsnot wurde das Verkehrsproblem von der Politik jahrzehntelang vernachlässigt. Schon vor 25 Jahren wusste der damalige CSV-Premierminister Jean-Claude Juncker: „Wa mer awer wirtschaftlech stramm wuesse mussen, da gi mer op ee Land mat 700 000 Awunner zou - a mir sinn, wéi d’Zuele weisen, um Wee dohinn.“ In der Infrastrukturpolitik spiele das Transportwesen daher eine „erfiergehuewe Roll“, sagte Juncker in seiner Rede zur Lage der Nation im Mai 2000. Diverse Transportminister von der DP, der LSAP und der CSV (Henri Grethen, Lucien Lux, Claude Wiseler) ließen anschließend Mobilitätskonzepte ausarbeiten, um den „Verkéiersinfarkt“ zu vermeiden. Sie trugen trendige und verheißungsvolle Namen wie Luxtraffic/BTB, Mobilitéit.lu und Mobil 2020. Der frühere ADR-Abgeordnete Jacques-Yves Henckes wollte unter der Hauptstadt einen „City-Tunnel“ bauen, der Unternehmer Guy Rollinger einen Monorail entlang der Autobahn A4.
Die Modernisierung und der Ausbau der Zugstrecke zwischen dem Ballungsgebiet im Zentrum und seinem Pendant im Süden war in allen Konzepten vorgesehen, doch er kam lange Zeit nicht über die Planungsphase hinaus. Er wurde als zu aufwändig und zu teuer erachtet. Erst unter dem grünen Mobilitätsminister François Bausch wurde der Bau einer zweiten Bahntrasse zwischen Bettemburg und Luxemburg umgesetzt, um die Zuglinien 60 und 90 voneinander zu trennen. In drei bis vier Jahren soll sie in Betrieb genommen werden und für Entlastung und mehr Pünktlichkeit sorgen. Durch die Abschaffung von Bahnübergängen soll der Zug weniger anfällig für äußere Störungen werden. Mit neuen und größeren Zügen sollen mehr Menschen transportiert werden können. Um den Mangel an Zugbegleitern auszugleichen, rekrutiert die CFL nun auch in der französischen Großregion.
Bis dahin wird es aber noch zu regelmäßigen Ausfällen und Verzögerungen auf der Linie 60 kommen.Von Mitte Juli bis Mitte September wird die Strecke komplett gesperrt, die Züge werden durch Busse ersetzt. In der ersten Hälfte der Sommerferien fahren viermal pro Stunde Direktbusse zwischen der Hauptstadt und Esch, in der zweiten Hälfte fahren Direktbusse nur noch zweimal pro Stunde, für die anderen beiden Fahrten müssen die Passagiere in Bettemburg in den Zug umsteigen, wodurch sich die theoretische Fahrtzeit von 38 auf 51 Minuten verlängert.
Rekorde Ende Januar sagte CFL-Direktor Marc Wengler auf einer Pressekonferenz, das Fahrgastaufkommen der nationalen Eisenbahngesellschaft habe sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. Solche Zahlen könnten nicht viele Bahngesellschaften in Europa vorweisen. Mit 28,7 Millionen Passagieren habe man 2023 so viele Kunden wie nie zuvor gezählt und an das Wachstum aus der Zeit vor der Pandemie anknüpfen können. Die Rekordbekundungen der CFL können jedoch nur bedingt darüber hinwegtäuschen, dass der Passagieranstieg zum größten Teil lediglich das Wachstum der Bevölkerung und der Beschäftigten in Luxemburg widerspiegelt. Zählte die CFL zwischen 2015 und 2023 27,4 Prozent mehr Passagiere, wuchs die Bevölkerung im gleichen Zeitraum um 18,5 Prozent, die der Grenzpendler um 36 Prozent. Verzeichnete die Linie 60 in den vergangenen acht Jahren einen Fahrgastzuwachs von 17,4 Prozent, stieg die Zahl der Einwohner/innen in dem an der Grenze zu Frankreich gelegenen Kanton Esch um über 15 Prozent.
Mit der Erschließung der Industriebrachen in Esch/Alzette und Düdelingen wird die (erwerbstätige) Bevölkerung im Süden in den kommenden Jahren weiter stark wachsen. In François Bauschs nationalem Mobilitätsplan ist daher vorgesehen, dass die Tram bis 2035 in einer schnelleren Version zwischen der Hauptstadt und Esch/Alzette verkehren soll. Laut ihrem Koalitionsvertrag will die neue CSV-DP-Regierung an diesem Vorhaben festhalten, ist aber auf die Kooperationsbereitschaft der Stadt Luxemburg angewiesen, um die nötigen Anschlussstellen für die Tram zu schaffen.
Alleine die Stadt Esch rechnet bis 2035 mit 10 000 neuen Einwohner/innen. Eine Strategie zur Dezentralisierung der Arbeitsplätze, die in der Vergangenheit bereits wenig erfolgreich war, hat auch die neue Regierung nicht: „Le Gouvernement soutiendra une décentralisation économique selon les principes de l’aménagement du territoire favorisant ainsi la création d’emplois locaux. La construction d’espaces de co-working proches des frontières sera encouragée“, heißt es lapidar im Regierungsprogramm. Sodass davon auszugehen ist, dass der Ausbau der Bahn- und auch der Tram-Infrastruktur erneut nur dürftig das hohe Bevölkerungswachstum kompensieren wird, das im wirtschaftspolitischen Ansatz von CSV und DP unumgänglich ist. „Wann d’Land weider wëll wuessen, muss och weider an den Transport investéiert ginn: Infrastruktur, Rullmaterial, Personal“, sagt Marc Hoffmann.