Hunderttausende auf dem Weg

Flüchtlingsproblem zerreißt Europa

d'Lëtzebuerger Land vom 14.08.2015

Die größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, ausgelöst durch den syrischen Bürgerkrieg, hat die Europäische Union im Juli endgültig und mit voller Wucht erreicht. Ausgerechnet nach Griechenland, das selbst knietief in der Krise steckt, sind im vergangenen Monat ungefähr 50 000 Flüchtlinge gekommen. Das sind die offiziellen Zahlen. Frontex, die Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, gibt knapp 50 000 Flüchtlinge an, die griechische Regierung fast 55 000 Flüchtlinge. Denksportaufgabe: Wie viele Menschen haben sich wohl neu auf den Weg gemacht, bis man den vollständigen Namen von Frontex korrekt ausgesprochen hat?

Von Dunkelziffern hört man nichts, doch darf man sicher noch ein paar Tausend hinzurechen. Die offiziellen Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks belaufen sich für die ersten sieben Monate des Jahres auf 224 000 Menschen, ungefähr 2 500 sind bei dem Versuch die rettenden Ufer Europas zu erreichen ums Leben gekommen. Das sind aber nur die, von denen man weiß. Auch hier wird es eine Dunkelziffer geben. Man sollte sich von den Zahlen nicht irremachen lassen, sie täuschen nur vor, dass die EU weiß, was gerade passiert und dass sie die Möglichkeit hat, die dramatische Entwicklung in den Griff zu bekommen. In Wirklichkeit erweist sich, dass sich Europa auf dieses Desaster mit Ansage überhaupt nicht vorbereitet hat.

Die allermeisten Flüchtlinge kommen über Griechenland und Italien. Von da aus versucht sich die große Mehrheit in die reicheren Länder der EU durchzuschlagen. Deutschland ist dabei das Hauptziel, aber bei weitem nicht das einzige. Ralf Jäger, Innenminister von Nordrhein-Westfalen, glaubt, dass sein Bundesland 2015 mehr Flüchtlinge als Frankreich aufnehmen wird. In vielen europäischen Städten wird händeringend nach Unterkünften gesucht. Zeltstädte, die man nur aus der Türkei, dem Libanon oder weit entfernten afrikanischen und asiatischen Krisen- und Katastrophengebieten kannte, wachsen jetzt auch in einer der reichsten Gegenden der Welt. In Calais ist ein Dschungel entstanden, in dem Menschen hausen, die mit aller Gewalt, und koste es ihr Leben, nach Großbritannien übersetzen wollen.

Selbst Bayern, das bisher immer mit einer gewissen Verachtung und Empörung auf und nach Italien geschaut hat, hatte im Juli so viele illegale Grenzübertritte, dass die Beamten mit der Registrierung nicht mehr nachkamen und die Menschen manchmal einfach weiterziehen lassen mussten. Griechenland und Italien tun dies ganz bewusst und geben dazu mitunter sogar ein Handgeld und eine Bus- oder Bahnfahrt bis zur Grenze. Wer wollte es ihnen verdenken? Es gibt keine gemeinsame europäische Migrationspolitik, die diesen Namen verdient hätte. Seit 1997 ist das EU-Land für die Flüchtlinge verantwortlich, das diese zuerst betreten. Durchgesetzt hat das 1990 Deutschland, das sich nach der Wiedervereinigung dem jahrelangen großen Zustrom von Asylsuchenden in den 1980-er Jahren nicht mehr gewachsen fühlte. Es dauerte dann noch sieben Jahre, bis der zwischenstaatliche Vertrag von allen ratifiziert worden war. Zuletzt wurde die zugehörige Verordnung, Dublin III, 2013 geändert. Vor allem Deutschland verweigerte sich 2013 der europäischen Solidarität, die es jetzt so lautstark für sich reklamiert.

Seit 2011 wachsen in Europa wieder die Grenzzäune. Den Anfang machte Griechenland an seiner Landgrenze mit der Türkei, er ist seit 2012 fertig. Bis Ende dieses Sommers will Bulgarien seinen Grenzabschnitt mit der Türkei mit einer Sperranlage schützen. Ungarn riegelt sich mit einem Zaun von Serbien ab. Auch der Ton wird rauer. Als es im Juni um die Verteilung von 40 000 Flüchtlingen innerhalb der EU ging und sich Großbritannien und viele osteuropäische Länder, aber auch Frankreich und Spanien einer Verbindlichkeit verweigerten, sagte der italienische Premierminister Matteo Renzi: „Wenn Ihr mit der Zahl von 40 000 nicht einverstanden seid, verdient Ihr es nicht, Europa genannt zu werden. … Wenn das Eure Vorstellung von Europa ist, dann könnt Ihr es lassen." Der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel sagte am vergangenen Wochenende der Bild-Zeitung: „Ein Teil der EU-Staaten empfindet Europa offensichtlich als eine Art Zugewinngemeinschaft, bei der man nur mitmacht, wenn es Geld gibt. Und bei der man aussteigt, wenn es um Verantwortung geht.“ Er glaubt, dass ein solches Verhalten „Europa zerstören“ könne und gibt doch nur sein kurzes Politikergedächtnis zum Besten.

Der britische Premier David Cameron will demnächst Vermieter, die an Illegale vermieten, bis zu fünf Jahren ins Gefängnis stecken. In England titelt die Daily Mail wegen der Vorfälle in Calais: „Send in the army“ und pöbelt gegen David Cameron, der nicht einmal mit ein paar tausend entkräfteten Afrikanern fertig werde. In Deutschland wird fast jede Woche ein unbewohntes oder bewohntes Flüchtlingsheim angegriffen. Hans-Dietrich Genscher, der langjährige deutsche Außenminister, fühlt sich durch die Stimmung in Deutschland an die dunkelste Zeit seines Lebens erinnert. Er fürchtet sich vor einer Atmosphäre wie in der Nazizeit.

Europa und die Europäer werden durch die vielen Flüchtlinge auf die Probe gestellt. Politik und Gesellschaft müssen nun beweisen, ob sie für ihre Werte auch einstehen, wenn es schwierig wird. Guy Verhofstadt, Fraktionsvorsitzender der Liberalen im Europäischen Parlament, forderte am 6. August die Einberufung eines Dringlichkeitsgipfels zur Migration und endlich einen echten europäischen Lösungsansatz. Einen Sondergipfel zum Thema gab es schon im April. Im November ist ein weiterer in Malta geplant, dieses Mal gemeinsam mit afrikanischen Staaten. Schaut man auf die Website des Europäischen Rates, kann man seitenweise lesen, was alles getan wird, um die illegale Einwanderung in den Griff zu bekommen. Am Kern des Problems gehen sie alle vorbei. Es braucht eine vergemeinschaftete europäische Einwanderungspolitik, eine echte europäische Grenzpolizei und eine übergeordnete europäische Asylbehörde. Alles andere bedeutet: Jeder für sich und Gott für uns alle.

Christoph Nick
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