Wolfgang Schäuble plant bewusst die Zerschlagung der Eurozone. Xavier Bettel spricht von einer Win-Win-Situation

Bankrotterklärung

d'Lëtzebuerger Land vom 17.07.2015

Dienstagnachmittag – Staatsminister Xavier Bettel (DP) stellt im Parlament die Ergebnisse des längsten Gipfels in der Geschichte der EU vor, während dem am Wochenende das Schicksal Griechenlands diskutiert wurde. Im Internet macht die Geschichte Furore, dass er, einem – wohlgemerkt gutmütigen – Obdachlosen, der barfuß unterwegs war, weil ihm nachts die Schuhe gestohlen wurden, neue Sneakers gekauft hat. „He is a good person“, so einer der zahlreichen Kommentare.

Bettels Schuhkauf hat Symbolcharakter für seine Regierungspolitik – erst werden die Sozialtransfers gekürzt, danach gibt es Almosen – und auch für das, was Europa derzeit mit den Griechen macht. Humanitäre Hilfe wolle man leisten, wenn es keine Einigung gebe, Griechenland sich den Gläubiger nicht beuge, hatte mehr als ein politischer Verantwortungsträger vor dem Gipfel gesagt. Das war die endgültige Bankrotterklärung. Nicht Griechenlands, sondern Europas. Solidarität dürfe kein leeres Wort in den EU-Verträgen sein, so Bettel am Dienstag. Dabei sind die Euroländer bereit, eines der ihren derart verarmen zu lassen, dass, wie in Krisengebiete außerhalb der Union, Zelte, Zwieback und Ärzte ohne Grenzen geschickt werden müssen. Flüchtlinge, die an den Außengrenzen auf die Chance warten, endlich EU-Boden zu betreten, sollten sich merken, dass Europa kein gelobtes Land mehr ist. Denn es sagt so manches über die Solidarität in Europa aus, wenn die fleißigen Länder lieber tatsächlich Geld für Hilfsgüter und die Notversorgung der griechischen Bevölkerung ausgeben, als Bürgschaft zu leisten, mit der die humanitäre Krise verhindert werden könnte.

Dass der europäische Geist, um beim medizinischen Jargon zu bleiben, der in der Griechenlandkrise gerne bemüht wird, sein Leben ausgehaucht hat und auch vom besten Notfallarzt nicht wiederzubeleben ist, schien Bettel trotz der 17-stündigen Diskussionen am Sonntag nicht aufgefallen zu sein. Das Abkommen vom Montagmorgen, das den Weg für Verhandlungen über ein drittes Hilfspaket ebnen soll, habe „Potenzial für eine Win-Win-Situation, für Griechenland, aber auch für die Geldgeber“, so Bettel. Das konnte Zuhörer ein wenig perplex lassen angesichts der Tatsache, dass erstens noch gar keine Hilfen für Griechenland beschlossen sind, und zweitens, die Hilfen, die Athen in Aussicht gestellt wurden, da sind sich Griechen, Geldgeber und die allermeisten Ökonomen einig, nicht funktionieren werden. „Unsere Aufgabe dabei ist es, Brücken zu bauen“, wiederholte Bettel seine nach nur zwei Wochen EU-Ratspräsidentschaft bereits überstrapazierte Metapher. „Europa hat bewiesen, dass es stark ist, wenn es darum geht“, so der Staatsminister.

Er war freilich nicht der Einzige, der den Ernst der Lage, nicht in Griechenland, sondern in Europa nicht verstanden hatte. „Es geht mir auf die Nerven“, sagte CSV-Fraktionschef Claude Wiseler mit Verweis auf „Kommentare in den vergangenen Stunden“. Weltweit hatte es unter dem Hashtag ThisIsACoup, Widerstand gegen den Umgang der Eurozone mit den Griechen gegeben, die als Gegenleistung für ein drittes Hilfsprogramm von an die 85 Milliarden Euro in den kommenden drei Jahren strengere Reformen durchführen müssen als die, die das griechische Volk beim Referendum abgelehnt hat, die Troika wieder einmarschieren lassen und außerdem den Staatsbesitz an wahrscheinlich mehrheitlich ausländische Investoren verkaufen müssen. Wiseler wollte deutscher sein als die Deutschen. Das Engagement der Luxemburger Steuerzahler gegenüber Griechenland steige mit dem dritten Hilfsprogramm auf fast eine Milliarde Euro, so der CSV-Fraktionschef, ein „hoher Preis“, der für die „Zukunft Griechenlands“ gezahlt werde.

Dabei wurde dieses Wochenende deutlich, dass es dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) weniger darum geht, die Milliarden seiner Steuerzahler zu retten. Sondern schlichtweg darum, Griechenland aus der Eurozone zu bugsieren. Nicht nur, weil der griechische Regierungschef, wie Beobachter in Brüssel sagten, von den Kollegen der Eurozone „gekreuzigt wurde“. Sondern weil Schäuble unumwunden den Ausstieg Griechenlands aus der Währungsunion vorschlug und damit die geplante Desintegration des europäischen Projektes und seiner trotz aller Krisen als Erfolgsprojekt gerühmten gemeinsamen Währung. Bei allen Pausen und Klammern, die in der Vergangenheit bei der Europäischen Integration gemacht und eingefügt wurden: Mit seinem Vorschlag hat Schäuble den Rückwärtsgang eingelegt. Er reißt Brücken ein, anstatt welche zu bauen.

Es blieb dem Chef der Luxemburger Diplomatie, Außenminister Jean Asselborn (LSAP), überlassen, treffsicher zu formulieren, dass Schäuble das Projekt EU insgesamt gefährde: „Wenn Deutschland es auf einen Grexit anlegt, provoziert es einen tiefgreifenden Konflikt mit Frankreich. Das wäre eine Katastrophe für Europa. Die Verantwortung Deutschlands ist riesig. Es geht jetzt nicht darum, die Gespenster der Vergangenheit heraufzubeschwören“, beschrieb Asselborn die drohende Spaltung Europas gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Der österreichische Kanzler Werner Faymann sagte in Brüssel: „Vorschläge wie das befristete Austreten aus einer Währung halte ich für entwürdigend, außerdem für falsch, weil das würde ja bedeuten, dass man da jedem zurufen kann, er soll mal ein halbes Jahr oder ein Jahr aussetzen. Ich halte das für den völlig falschen Weg.“ Auch Frankreich und Italien wollen sich von Deutschland nicht zurufen lassen, sie sollen einmal austreten. Sie fallen im Bruttosozialprodukt der Währungsunion schwerer ins Gewicht als das kleine Griechenland. Müssten sie austreten, riskierte der Euro auseinanderzubröckeln.

Für eine „Auszeit“ wäre Schäuble sogar bereit, die Griechen zu bestechen. Denn in seinem Vorschlag, der zwar nicht von den Finanzministern diskutiert wurde, aber dennoch den Weg in die vorläufige Abschlusserklärung fand, heißt es, ein Time-Out würde es den Griechen erlauben, sich an der Pariser Club zu wenden, um dort eine Schuldenrestrukturierung zu beantragen. Wer sonst aber als die Gläubiger, also die Euroländer, allen voran Deutschland, sollte für einen in Paris erwirkten Schuldenschnitt zahlen?

Worum also geht es Schäuble, wenn nicht um die deutschen Steuermilliarden? Yanis Varoufakis, der seit seinem Rücktritt als griechischer Finanzminister Interviews und Stellungnahmen in Serie produziert, sagt: Darum, ein Exempel zu statuieren. Schäuble habe einen Plan für die Eurozone. Wenn Griechenland die Währungsunion verlasse, binde das die anderen Eurostaaten – aus Angst vor dem gleichen Schicksal – enger zusammen. Anstatt Integration durch Kooperation, Gehorsam durch Expulsion, könnte man zusammenfassen. „Dr. Schäuble“ habe ihm das selbst gesagt, gibt Varoufakis zu Protokoll. Dr. Schäuble hat ihm bisher nicht widersprochen.

Xavier Bettel sagte am Dienstag: „Wir haben uns in den vergangenen Jahren die Instrumente gegeben, um Krisen zu überstehen.“ Dabei zeigt Schäubles Vorschlag, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Weil es keine wirtschaftliche Union gibt, kennt die Eurozone von Anfang an nur die Bestrafung als Instrument für eine wirtschaftliche und fiskale Konvergenz im Euroraum. Dass das nicht funktioniert, wenn die betroffenen Länder nur groß genug sind, haben Deutschland und Frankreich in der Vergangenheit demonstriert. Deshalb wurde der Stabilitätspakt für Griechenland und andere kleinere Euroländer in den vergangenen Jahren verschärft. Dass die immer schärfere Austerität, immer härtere Sparmaßnahmen, nur eine begrenzte Wirkung haben, zeigt das Beispiel Griechenland: Man kann das Volk nur so langer bestrafen, wie es etwas zu verlieren hat. Was danach kommt? Sicher keine Win-Win-Situation.

Michèle Sinner
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