Schon zu Lebzeiten war die Reichsfilmregisseurin Leni Riefenstahl eine Legende. In zahllosen Veröffentlichungen werden sie und ihr Werk noch immer verherrlicht wie auch kritisch rezipiert. Die einen sehen in ihr Hitlers „Steigbügelhalterin“ und eine NS-Propagandistin, die anderen halten sie für eine große Künstlerin, der es zum Verhängnis geworden ist, dass das NS-Regime ihre Werke zu Propagandazwecken missbraucht hat.
„Will man noch einen Unterschied machen zwischen Dokumentarfilm und Propaganda, dann ist jeder, der die Filme der Riefenstahl als Dokumentarfilme verteidigt, naiv“, schrieb die US-amerikanische Autorin Susan Sontag in ihrem 1975 erschienenen Essay Faszinierender Faschismus. Dass Reichsparteitagstrilogie und Olympia keine reinen Dokumentationen, sondern NS-Propagandafilme und künstlerische Inszenierungen eines Führerkults sind, lässt sich eigentlich recht unschwer erkennen.
Leni Riefenstahl war eine begabte, ehrgeizige Filmemacherin, die für ihren Erfolg über Leichen ging. Dies bereits bei ihrem Regiedebüt, das sie zusammen mit dem jüdischen Filmtheoretiker und Drehbuchautor Béla Balázs entwickelte. Regie führte seiner Zeit Balázs, Riefenstahl assistierte. Das blaue Licht (1932) war ein künstlerischer Erfolg. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten forderte Balázs von Riefenstahl das zurückgestellte Honorar für seine Arbeit am Drehbuch. Darauf erteilte Riefenstahl ihrem Freund Julius Streicher (Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes Der Stürmer) eine Vollmacht und entledigte sich so ihres jüdischen Koautors. Balázs’ Name verschwand aus dem Vorspann des Films und es erschien nur der Riefenstahls.
Um ihrem Film Tiefland (den sie im Mai 1945 drehte, der zeitweise in die Hände der französischen Besatzungsmacht gelangt war und den sie erst 1953 fertigstellte) mehr Authentizität zu verleihen, besetzte Riefenstahl die Komparsen-Rollen mit südländisch aussehenden Sinti und Roma, die sie aus NS-Zwangslagern rekrutierte. Nach Abschluss der Dreharbeiten wurden sie ins „Zigeunerlager Auschwitz“ deportiert, wo die meisten von ihnen ermordet wurden. Belangt wurde Leni Riefenstahl dafür nie. Im Gegenteil: 1949 prozessierte Riefenstahl gegen die Münchener Revue wegen der Behauptung, die Komparsen nicht entlohnt und von ihrer Deportation gewusst zu haben. Der Prozess endete zu ihren Gunsten.
Ein weiterer „Kollateralschaden“, den Riefenstahl hinterließ, war Willy Otto Zielke. 1934 erhielt er von der Reichsbahn den Auftrag, einen Industriefilm zum 100. Jahrestag der ersten deutschen Eisenbahn zu drehen. In Das Stahltier verwob der gelernte Eisenbahningenieur Zielke Dokumentaraufnahmen mit einer Spielfilmhandlung. Stilistisch zeichnete sich sein Film durch eine expressionistische Bildgestaltung und einen avantgardistischen Schnitt aus. Der Film wurde vom Reichspropagandaministerium verboten. Spätestens durch Das Stahltier soll Riefenstahl in Zielke einen großen Konkurrenten gesehen und die Veröffentlichung des Filmes verhindert haben.
In der Folge machte Riefenstahl Zielke zu ihrem Mitarbeiter für die Produktion der Olympia-Filme. Vertraglich war er in inhaltlicher und künstlerischer Gestaltung lediglich für den Prolog der Filme verantwortlich. Während der Dreharbeiten zu diesem Prolog kam es zwischen Zielke und Riefenstahl zum Streit. Kurz nach Ablieferung des fertigen Filmmaterials wurde Zielke 1937 in die Psychiatrie (Haar) eingewiesen. Dort wurde eine angebliche Schizophrenie diagnostiziert und Zielke wohl wegen seiner homosexuellen Neigung zwangssterilisiert. Zielke zufolge war Riefenstahl für die Einweisung verantwortlich, er konnte das aber nicht beweisen. Fünf Jahre nach der Zwangseinweisung wurde „der als unheilbar geltende“ Zielke wieder freigelassen, offenbar ebenfalls auf Betreiben von Riefenstahl, die ihn sogleich wieder als Kameramann bei Tiefland einsetzte.
Albert Ostermaier knüpft mit seinem Bühnenstück Stahltier. Ein Exorzismus an diese Geschehnisse an. Über seine Haltung lässt der bekannte Autor keinen Zweifel: „In memoriam Willy Zielke“ heißt es in der Unterzeile. Kann eine Teufelsaustreibung auf der Bühne funktionieren, indem man die alten faschistischen Geister beschwört und karikiert auf die Bühne zurückholt? Ein gewagtes (Kunst-)Stück.
Der Bühnentext, in dem Willy Zielke, Leni Riefenstahl, eine Ärztin und der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels auftreten, ist für zwei Schauspieler/innen geschrieben. Die Rollen werden im (Ver-)Laufe des Stücks gewechselt.
Jacqueline Macaulay gibt in der Inszenierung Frank Hoffmanns in weiten Teilen Leni Riefenstahl, aber auch Zielke, Wolfram Koch gibt Goebbels, aber auch den Künstler Zielke.
Die Bühne (Christoph Rasche) katapultiert die Zuschauer/innen in die einstige Filmwelt (eine alte Kamera, zwei Sessel). Auf einem roten Teppich tippeln die beiden Figuren in beigen Uniformen mit lila Strumpfhosen anfangs darauf herum und wirken wie groteske Aufziehpuppen, ihre Körper werfen Schatten an die Wand. – Gigantische Schatten, die sie irgendwann verlassen werden. Gelungene Verfremdungseffekte und ein skurriles Schau- und Schattenspiel! „Hier an diesem Ort, der ein Tatort ist, den ich begehe mit meiner Erinnerung. Aber niemand begleitet mich, nur Stimmen, in meinem Kopf. Er ist ja noch verrückt, der Zielke“, heißt es anfangs.
Macaulay als Leni Riefenstahl erscheint verblendet und verstrickt sich im Laufe des Stücks zunehmend in Widersprüche. Anfangs verbrennt sie die Filmrolle von Tiefland, erklärt aber selbst, ihr Tiefland-Film sei nur eine „Notlösung“ gewesen (weil sie ihre Penthesilea nicht habe machen können): „Ich wusste von nichts. Auf der anderen Seite wird man sagen, sie ist eine Blinde, die nichts wissen will, die immer ein Nazi bleibt. Und dabei hat das alles mit meiner Person gar nichts zu tun: Ich war nie eine Nazi und will auch keine Nazi bleiben ...“
Der erste Akt spielt während der offiziellen Vorführung von Das Stahltier im Jahr 1935. Historische Aufnahmen werden während der Inszenierung im TNL auf eine Leinwand projiziert und somit wird Zielkes Filmkunst zum Leben erweckt.
Riefenstahl outet sich als große Bewunderin von Zielkes Schnitten und seiner Ästhetik. „Deshalb brauche ich Zielke. Für mein Bild der Griechen“, wird sie sagen.
Und über seinen Film schwärmen: „Die hundertjährige Geschichte der Eisenbahn. Aber was er daraus macht! Einen hinreißenden Film. Seine Lokomotive wirkt wie ein lebendiges Ungeheuer. Die Scheinwerfer der Lok sind Augen, die Armaturen das Hirn, die Kolben Gelenke und das triefende Öl, das aus den bewegten Kolben läuft, das wirkt wie Blut. Das ist Blut (...)“
Doch der Film schade in seiner Ästhetik dem Ansehen des deutschen Volkes, begründet Goebbels das Verbot, zudem sei „die englische Leistung bei der Erfindung zu stark betont“ und es sei „ja zur Hälfte ein Kostümfilm“.
„Zielke ist Filmkunst. Er ist allen Filmschaffenden um Jahrzehnte voraus“, lässt Ostermaier Leni Riefenstahl eingestehen. Während Goebbels ihr entgegnen wird: „Sie sollten sie [die Filmrolle] vernichten. Dieser Zug könnte sie überrollen.“
Rasch wird klar: es geht um Kunst und ihre politische Aneignung. Wie stark darf sich ein Künstler vom System vereinnahmen lassen? Wann ist er noch Künstler, und wann lässt er sich instrumentalisieren? „Die Kunst ist keine Hure, nur die Künstler“, sagt Riefenstahl an einer Stelle.
Ostermaier benutzt die (Kunst-)Figur Zielkes, um Riefenstahl als vom NS-System vereinnahmte Täterin zu entlarven: „Auch wenn sie weiter deine Lügen glauben. Ich war nur ein Opfer. Nur eine Künstlerin. Du warst immer die Täterin. Und ich der Künstler.“
Die Rivalität zwischen Goebbels und Riefenstahl wird in dem ironischen Schlagabtausch gut herausgearbeitet. Das ist streckenweise fesselnd, jedoch nicht immer geschmackssicher. Wenn auch die sexuellen Avancen, die Goebbels Riefenstahl gemacht haben soll, transportiert werden, so wirkt Ostermaiers Humor etwas abgeschmackt, wenn er Goebbels etwa so Sätze wie: „Sie spielen mit dem Feuer, verehrte Reichsgletscherspalte“ in den Mund legt.
Im zweiten Akt, „Im brennenden Berlin, der Hölle“ im Angesicht der nahenden Kapitulation Deutschlands treten beide Schauspieler in schwarzen Ledermänteln auf und Leni Riefenstahl wird noch einmal verzückt ihre Verblendung hinausschreien, bevor sie sich selbst „für den Führer“ bei einem vermeintlichen Suizidversuch mit Zyankali abfilmt. Zugleich wird sie bis zuletzt beteuern: „Ich bin unschuldig. Ich bin nur Künstlerin. Ich habe meinen Teil getan. Mein Teil ist die Kunst.“
Willy Zielkes Entmündigung wurde im Herbst 1945 auf seinen Antrag hin aufgehoben. Die Bundesrepublik Deutschland entschädigte ihn 1987 für die Zwangssterilisation mit 5 000 DM. Zwei Jahre später starb er im Alter von 86 Jahren.
Ostermaiers starker Bühnentext ist eine nuancierte, wenngleich sehr deutsche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit Leni Riefenstahls. Die Schauspieler Macaulay und Koch liefern bei der Uraufführung im TNL eine starke Performance. Frank Hoffmann sind einige eindrucksvolle Verfremdungseffekte gelungen, die in Erinnerung bleiben. Das Stück setzt jedoch viel Wissen voraus. Viel lautes NS-Getöse, kunstvoll umgesetzt, um eine historische Figur zu würdigen, die längst in Vergessenheit geraten ist und auf die Bühne bringt, wie Deutschland mit Opfern seiner NS-Vergangenheit umging.