Einer der originellsten Filme beim Festival von Venedig: Vidblysk des Ukrainers Walentyn Wassjanowytsch

Das Grausam-Schöne

d'Lëtzebuerger Land vom 10.09.2021

Ein Mann lässt sich, umgeben von einer kargen Felslandschaft, mitten im Winter in einer übergroßen, freistehenden Baggerschaufel ein Bad ein. Es ist ein irritierendes Bild, und es steht da vielleicht noch als Zeichen für die letzte Erfahrung von Wärme und Geborgenheit in einer traumatischen Nachkriegs-Ukraine, die der Film Atlantis abbildet. Der 50-jährige ukrainische Regisseur Walentyn Wassjanowytsch durfte mit Atlantis den besten Film im Orrizonti-Wettbewerb der Filmfestspiele Venedig 2018 für sich beanspruchen. Als Hintergrund seiner filmischen Erzählung diente ihm der Krieg im Donbass. Seit 2014 und bis heute hat er mehr als 13 000 Todesopfer gefordert. Die fiktional-überhöhte Zukunftsvision, die deutlich auf George Orwells 1984 anspielt, trägt sich im Jahr 2025 in der Ostukraine zu – ein Jahr nach Kriegsende. Es mag auf den Schauplatz der Handlung zurückzuführen sein (ein demilitarisiertes Kriegsgebiet) und auf den visuellen Stil (Plansequenzen und überwiegend statische Kameraeinstellungen), dass die Filmkritik Parallelen zu Stalker (1974) von Andrei Tarkowski herstellte, dem großen Filmmagier des sowjetischen Kinos der Nachkriegszeit.

Walentyn Wassjanowytsch ließ sich an der Nationalen I. K. Karpenko-Kary-Universität für Theater, Kino und Fernsehen in Kiew zum Kameramann und Dokumentarfilmregisseur ausbilden und schloss ein Studium der Filmregie an der Andrzej-Wajda-Meisterschule an. Beides macht er in seinen Fiktionsarbeiten nutzbar. Er selbst hält die Kamera und er selbst bestimmt den Schnitt. Darum haben seine Bilder mitunter einen dokumentarischen Charakter, weil er gezielt Momente in seinen Filmen aufkommen lässt, die auf die Verwischung der Grenze setzten. So auch in seinem neuen Film:

Vidblysk, der aktuell um den Goldenen Löwen für den besten Film im Wettbewerb der Mostra von Venedig konkurriert, greift viele der Motivfelder aus Atlantis (der in Luxemburg 2019 im Luxembourg City Filmfestival zu sehen war) wieder auf: Der ukrainische Chirurg Serhiy wird in der Konfliktzone in der Ostukraine von den russischen Streitkräften festgenommen und erlebt in der Gefangenschaft grausame Szenen der Erniedrigung, Gewalt und Gleichgültigkeit gegenüber der menschlichen Existenz. Nach seiner Freilassung versucht er wieder mit seiner Tochter und seiner Exfrau eine Bindung aufzubauen.

Vidblysk lässt sich auch als eine Vorgeschichte zu Atlantis lesen: Die posttraumatischen Belastungsstörungen nehmen hier ihren Ursprung, in einer gegenwärtigen Ostukraine, die noch nicht zu der versunkenen Stadt geworden ist, die der Vorgängerfilm darstellt. Die Transformation von Menschen zu Soldaten, zu Kampfmaschinen – in Vidblysk beginnt dies bereits im Kindesalter – kommt bei Wassjanowytsch mit einer Aushebelung der individuellen Persönlichkeit. Dass es für den Soldaten in Atlantis so etwas wie ein Privatleben gegeben hat, kann man allenfalls noch erahnen. Eine Vorstellung der Zeit „danach“ ist ihm fremd, beziehungsweise er kann sie nicht artikulieren oder sie sich „in Aussicht stellen“. Doch so sehr sich der Mensch bei Wassjanowytsch in Atlantis bemüht, ein anderer, ein neuer Mensch – vielleicht ein besserer Mensch – zu werden, so unmöglich ist ihm die Rückkehr zur reinen Bestialität einer Kriegsmaschine, die nur auf den Gehorsam und das Töten ausgerichtet ist. Es kann für ihn nur ein Zwischenstadium geben, und genau in diesem Stadium festgehalten zu sein, macht die Verzweiflung aus.

Das Konfliktfeld, das das menschliche Wesen zugleich konstituiert und auswirft, ist der Krieg. Er formt den Menschen und zerstört zugleich das menschliche, moralisch-gesunde Individuum. Das ist auch in Vidblysk so: Wir sehen da einen Mann, dem das Unantastbare, seine Würde entrissen zu werden droht. Wir erkennen hieran – vielleicht mehr noch als in Atlantis – Menschen. In Vidblysk kämpft ein Mensch um das Mensch-Sein selbst. Wassjanowytsch richtet den Blick, entgegen der Genrestandards, die das Kino produziert und in den Köpfen der Zuschauer festigt, durch die Schablonen der Genrefilmindustrie hindurch auf das Mensch-Sein. Darum könnte der Titel auch nicht besser gewählt sein: Vidblysk meint Spiegelung.

Die Idee zu Vidblysk kam ihm eigenen Angaben zufolge, als er mit seiner zehnjährigen Tochter den Aufprall einer Taube auf eine Fensterscheibe erlebte. Eine eindrückliche Erfahrung, die der Regisseur als „wunderschön und grauenerregend“ beschreibt. Das Grausam-Schöne im Bild einzufangen, ist mithin auch der Anspruch, den Wassjanowytsch mit Vidblysk im Besonderen zu erfüllen versucht: das Gegensätzliche, das Widersprüchliche im Bild zu vereinen.

Wie aber erreicht Wassjanowytsch das? Seine Bildlichkeit ist geprägt von einer auffällig symmetrischen Anordnung, bereits in der mise-en-scène, also der Raumanordnung, der Figurenaufstellung, aber auch in der Kadrierung, durch eine hohe Tiefenschärfe durch Weitwinkelobjektive, die nie wirklich Nähe, aber auch keine tatsächliche Ferne suggerieren. Deshalb auch scheint die Halbnahe seine bevorzugte Einstellungsgröße zu sein.

So gelingt ihm die für das Kriegsthema nötige Kälte, und doch wirken die Bilder in ihrer fotographischen Perfektion tableauhaft. In Wassjanowytschs Filmen steckt ein Gestus der Verweigerung: Es zeigt sich auffällig ein Mangel an Sprache, in Form innerer Monologe oder persönlicher Dialoge, die über die psychische Verfassung der Figuren Aufschluss geben könnten. Diese Spracharmut sowie der Verzicht auf psychologische Tiefe sind Merkmale eines ästhetischen Programms: Das Audiovisuelle schiebt sich eindrücklich in den Vordergrund und beansprucht den Vorrang gegenüber der Sprache. Ist in Atlantis Filmmusik vollkommen abwesend, und wird Klanguntermalung in Vidblysk nur sehr punktuell genutzt, erhöht das die Distanz nur weiter. Ton und Bild stehen nicht im Zeichen einer Gefühlsakzentuierung und dienen auch nicht dazu, auf melodramatische und appellierende Weise ein Mitempfinden zu evozieren, das auf sprachlicher Ebene verweigert wird. Umso mehr muss das Publikum bereit sein, sich auf dieses Programm einzulassen.

Man könnte Walentyn Wassjanowytsch wohl als einen hoffnungsvollen Zweifler ansehen. Als einen, der in seinen filmischen Untersuchungen des Ukraine-Konflikts die Gesellschaft für unfähig erklärt, humanisierbar zu sein, und dem Menschen in unmenschlichen Zeiten die Fähigkeit abspricht, überhaupt noch gesellschaftsfähig zu sein. Was dann „bleibt“, sind jene „distanzierten“ und „kalten“ Bilder, die nur durch die kleinen Gesten einer Umarmung zum Ausdruck einer Hoffnung werden. Atlantis und Vidblysk dürfen als die originellsten und spannendsten Filme des jüngsten ukrainischen Kinos gelten.

Marc Trappendreher
© 2024 d’Lëtzebuerger Land