Die „allgemeine Strömung, die gegenwärtig in Deutschland herrscht“, sei „eine Strömung des Zynismus und der Resignation auf enttäuschte Hoffnungen“, fand vor 100 Jahren Gustav Friedrich Hartlaub, der damalige Direktor der Kunsthalle in Mannheim. Ein Déjà-vu für heutige Griesgrame? Hartlaub konnte dem Geist seiner Zeit immerhin auch „eine positive Seite“ abgewinnen: die „Begeisterung für die Sachlichkeit“ und den „Wunsch, die Dinge objektiv zu behandeln, so wie sie sind“.
Zu der legendären Ausstellung Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus kamen in Mannheim von Juni bis September 1925 rund 4.400 Besucher, ein eher mittelprächtiges Ergebnis. Das Presse-Echo war jedoch enorm, und die Schau wurde anschließend auch in Dresden, Chemnitz, Erfurt und Dessau gezeigt. Sie gab im deutschsprachigen Raum einer ganzen Epoche den Namen: der kurzen, aber aufregenden Umbruchszeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Crash von 1929, beziehungsweise dem Nazi-Regime.
Das Label „Neue Sachlichkeit“ bekommen seither vor allem Maler, Grafiker und Designer der Zwischenkriegszeit. Aber auch Dokumentarfilme mit so vielversprechenden Titeln wie „Die freudlose Gasse“ oder „Quartiere des Elends und des Verbrechens“. Oder sachlich-nüchterne Porträtfotos von August Sanders. Realistische Reportagen von Egon Erwin Kisch. In der Architektur zum Beispiel die Weißenhofsiedlung in Stuttgart und die Tabakfabrik in Linz. Oder auch die einst restlos ausverkauften „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ der meist ebenso bekifften wie unbekleideten Skandalnudel Anita Berber.
Expressionistische Gefühlsausbrüche oder Dada-Spielereien waren zur Zeit der Weimarer Krisen-Republik nicht mehr gefragt: Es gibt nichts zu Lachen, und auf Porträts wird nicht gelächelt! Abgesehen von einem Faible für ernste und klare Linien, hatten die neusachlichen Künstler nicht viel gemeinsam. Bereits Hartlaub unterschied zwei Richtungen: Zu den „linken“ Veristen zählte er politisch engagierte Gesellschaftskritiker wie Otto Dix oder George Grosz. Dagegen pinselten „rechte“ Klassizisten wie Georg Schrimpf oder Alexander Kanoldt idyllische Landschaften und Stillleben in altmeisterlicher Lasurtechnik. Einer dritten nachexpressionistischen Gruppe gab der Kunsthistoriker Franz Roh den Oberbegriff „Magischer Realismus“, vertreten zum Beispiel durch Franz Radziwill und Franz Sedlacek.
Für die große Jubiläumsausstellung in der Mannheimer Kunsthalle wurde die Ur-Schau von 1925 rekonstruiert - allerdings nur virtuell für eine Multimedia-Projektion und ohne 20 Werke, die heute verschollen sind. Von 32 Künstlern waren einst 132 figurative Arbeiten gezeigt worden. Davon lassen sich jetzt 24 im Original bewundern. An erster Stelle ist dabei „Christus und die Sünderin“ von Max Beckmann zu nennen: von der Kunsthalle 1919 erworben (Beckmanns erster Museumsankauf überhaupt), von den Nazis dann „verwertet“, nun eine Leihgabe aus Saint Louis, Missouri. Temporär nach Mannheim zurückgekehrt ist auch „Der graue Tag“ von Grosz: Die trostlose Straßenszene mit einem Kriegsinvaliden und einem Magistratsbeamten für Kriegsbeschädigten-Fürsorge ist nun ein Hauptwerk der Neuen Nationalgalerie in Berlin.
Die Jubiläumsschau soll auch gar kein Remake sein, sondern mit mehr als 230 Arbeiten von 124 Künstlern die Ausstellung von 1925 „kritisch hinterfragen“ und beleuchten, was Hartlaub damals nicht beachtet hatte oder noch nicht wissen konnte. Beispielsweise war Christian Schad, der heute als der Hauptvertreter der Neuen Sachlichkeit schlechthin gilt, beim Mannheimer Urknall noch nicht dabei gewesen. Eine „Neuentdeckung“ ist auch Arno Henschel, dessen 1928 entstandene „Dame mit Maske“ nun als Titelbild fungiert.
Da sich im Ersten Weltkrieg die Herren der Schöpfung erfolgreich dezimiert und verkrüppelt hatten, wurde danach notgedrungen Frauen der Zugang zu Ausbildung, Arbeit und Wahlrecht gewährt. Die androgyne „neue Frau“, ein Lieblingssujet der Neusachlichen, machte Furore mit Bubikopf und Zigarette. Trotzdem hatte Hartlaub ausschließlich Kunst von Männern gezeigt. Jetzt sind in Mannheim dagegen auch Arbeiten von 21 Künstlerinnen zu sehen, zum Beispiel von Lotte Laserstein, Jeanne Mammen und Anita Rée.
Die Künstler der Ausstellung von 1925 hatten alle die deutsche Staatsbürgerschaft oder waren eng mit Deutschland verbandelt, wie etwa der Schweizer Niklaus Stoecklin oder die beiden Ukrainer Iwan Babij und Mykola Hlushchenko. Dagegen bemüht sich die Kunsthalle nun ausdrücklich um die „internationale Dimension“ des Realismus der 1920er: Beispielsweise werden aus Österreich Werke von Rudolf Wacker gezeigt, aus der Schweiz Adolf Dietrich, aus den Niederlanden Dick Ket und Pyke Koch, aus den USA Edward Hopper und Georgia O’Keeffe. Selbst Pablo Picasso wird eine neusachliche Phase nachgesagt.
Ein dritter Schwerpunkt der Jubiläumsausstellung sind Künstler-Schicksale im „Dritten Reich“, das heißt das brutale Ende des kulturellen Aufbruchs. Nazi-Innenminister Wilhelm Frick machte 1933 „Schluss mit dem Geist der Zersetzung“ und „jenen eiskalten, gänzlich undeutschen Konstruktionen unter dem Namen der Neuen Sachlichkeit“. Dass linke Kritikaster mit Arbeits- und Ausstellungsverbot belegt wurden, versteht sich. Aus heutiger Sicht überrascht vielleicht, dass auch ein Teil der Klassizisten als „entartet“ eingestuft wurde. Felix Nussbaum, Ilona Singer und andere jüdische Künstler wurden im KZ ermordet. Andere überlebten zwar in der Emigration, konnten aber nie mehr an frühere Erfolge anknüpfen. Besonders Künstlerinnen gerieten lange in Vergessenheit, etwa Dörte Clara Wolff und Hannah Höch. In der DDR galt Kate Diehn-Bitt dann als „nicht zukunftsweisend und optimistisch“.
Trendsetter war die Mannheimer Kunsthalle nicht nur bei der Etablierung der modernen Kunst gewesen, sondern auch bei ihrer Bekämpfung. Direktor Hartlaub wurde gleich nach der Machtergreifung der Nazis entlassen. Sein treu-völkischer Nachfolger zeigte von April bis Juni 1933 „Kulturbolschewistische Bilder“: 64 Gemälde von Grosz, Dix, Beckmann & Co., ohne Rahmen, mit Preisschildern und so unattraktiv wie möglich gehängt. Die „Mannheimer Schreckenskammer“ war mit über 20.000 Besuchern ein großer Publikumserfolg und ging auf Tournee durch Deutschland - ein Prototyp der Diffamierungskampagne „Entartete Kunst“, die 1937 in München startete. Für ein Reenactment dieser Anti-Ausstellung gibt es derzeit keine Pläne. Jedenfalls nicht vor der nächsten deutschen Bundestagswahl im Februar.