Die Kleine Zeitzeugin

Als unser Weltbild ins Wanken geriet

d'Lëtzebuerger Land vom 10.09.2021

Die meisten von uns wissen es noch ganz genau. Wo sie waren, als es geschah. An diesen Moment, an dem alles erstarrte, die Bewegung, und dann einfror. Wie alles nur noch starrte.
Ich war in der Küche, dem normalsten, alltäglichsten Ort überhaupt, meine Kinder waren gerade aus der Schule gekommen. Und plötzlich standen wir nur noch und schauten. Schauten. Schauten. Festgewurzelt, gebannt. Auf CNN redete eine Frau, und hinter ihr brachen Türme zusammen. Sehr schnell und sehr langsam zugleich. Immer wieder zwei Flugzeuge, die sich in zwei Türme bohrten. Zwei Flugzeuge, die zwei Türme durchbohren. Feuerzungen schnalzen auf, schwarzer Qualm steigt auf und hüllt alles ein. Auf dem Bildschirm sind schwarze Punkte zu sehen, wie Fliegendreck schaut es auf dem Bildschirm aus, die schwarzen Punkte fallen aus Fenstern. Schnell und sehr langsam zugleich. Eins der Kinder beginnt zu weinen. O my god, sagt die Sprecherin.

Es gibt unzählige Geschichten darüber. Wo wer war, als es geschah. Immer wieder gibt es ja diese mythischen Momente, die Menschen miteinander verbinden, Menschen eines Landes, einer Lebenszeit, einer Generation. Tage von Glanz und Glück und Glorie, wie sicher der Einmarsch der Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg. Träume, die zu Traumata wurden, blutige Brandings. Wo warst du, als Kennedy ermordet wurde? Greis/innen erinnern sich, das Schreien der Mutter, der schwarz-weiße Mann, der strahlt und winkt und zusammenbricht, immer wieder bricht er im Fernsehen zusammen. Die schöne schwarz-weiße Frau, die seine Frau ist, hat einen Blutfleck auf dem Rock. Einen echten Bösewicht gibt es auch, den Mörder. Wo warst du, als John Lennon starb? Wo warst du, als sie ins Bataclan kamen?

9/11, Chiffre für den Untergang einer für unumstößlich gehaltenen Welt. Mit unglaublicher Chuzpe wird dem Monument unserer vermeintlichen Größe einen Stoß versetzt. Später sehen wir das Gesicht des amerikanischen Präsidenten, der gerade eine Grundschule besucht, wie ihm jemand etwas ins Ohr flüstert. Als habe ihm jemand einen Stoß versetzt. Mehr, einen Tritt. Er sieht wie vollkommen weggetreten aus. Als würde er die Sterne sehen, nichts mehr sehen, ein Boxer im KO.

Die Türme, diese Symbole unserer freien, friedlichen Welt, von Kapitalismus, Käuflichkeit und Konsum, sexy getarnter Ausbeutung, die vor unseren Augen zu Krebs erregendem Staub zerfielen, werden für immer eingebrannt sein in unser kollektives Gedächtnis. Mit diesen Bildern zerfällt eine Welt zu Staub, zu der auch wir gehören, das spüren wir, ob sie uns passt oder nicht. Ob wir sie hassen und verachten oder nicht. Es ist unsere Welt. Diese demonstrative Kampfansage läutet das Ende vom Ende der Geschichte ein, des besinnungslosen Auskostens jenes Triumphs, jener Hybris, die auf den Zerfall des Rostblocks folgten.

Auch damals gab es Bilder für immer. Als die Mauer fiel und die Menschen sich um den Hals fielen. Die von drüben waren plötzlich mitten drin, überschwänglich wurden sie begrüßt, in ihren schlecht sitzenden Jeans, die Cooleren mit Puhdys-Frisuren, die Westwelt sahen ihnen gerührt beim Bananenessen zu. Ab jetzt gab es kein Drüben mehr, alles war hüben, hier, jetzt, erlöst, blühende Landschaften, es würde schön sein wie in den bunten Broschüren der Zeug/innen Jehovahs. West is best und bald überall, Beste aller Welten, schöne Bilder einer schönen neuen Welt.

„The United States will hunt them“, versprach Georges W. Bush, als die Insignien der schönen neuen Welt zu Asche zerfielen. Nach einem zwanzigjährigen Krieg, von dem wir kaum was mitbekamen – war ja auch so sterbenslangweilig lange –, wird Afghanistan heute gern als Scherbenhaufen bezeichnet. „We will hunt you down,“ verspricht Joe Bilden die Fortsetzung des Teufelskreislaufs.

Menschen rennen um ihr Leben. Es regnet schwarze Punkte.

Wirklich ins Wanken gerät unser Weltbild, falls wir so etwas Altmodisches überhaupt noch haben, dadurch aber nicht. Afghanistan ist da sowieso gar nicht drauf.

Michèle Thoma
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